Neuburger Rundschau

Das Cannes der kleinen Leute

Krimis als Reiseführe­r? Geht das? Die Krimi-Autorin Christine Cazon liebt es, über ihre Stadt zu schreiben. Und sie führt ihre Leser auch an ungewöhnli­che Plätze. Eine Tatortbege­hung

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hat sie viele französisc­he Krimiserie­n angeschaut, hat in der Zeitung Nice-Matin die Kriminalfä­lle studiert und Notizen gesammelt. Motto: „Das kann man alles mal brauchen.“Drei Ordner hat sie inzwischen angelegt – Cannes Polizei, Cannes Geschichte, Cannes Kriminalit­ät. Und die Themen gehen ihr wohl so schnell nicht aus, in „Wölfe an der Côte d’Azur“etwa nimmt sie die Leser mit ins bergige Hinterland, dahin, wo sie selbst ein paar Jahre gelebt hat, um nach einem Burn-out zur Ruhe zu kommen.

Und in „Stürmische Côte d’Azur“geht es auf die kleine Insel Ste. Marguerite, die wir vom Garten des Musée de la Castre aus sehen. Wir klettern die gut 190 Stufen zum Turm hoch und schauen von oben auf die Dächer von Cannes, hinüber zu den neuen schicken Häusern von La Californie und auf der anderen Seite zum Esterel Gebirge. Im vom Sonnenlich­t gesprenkel­ten Meer liegen die beiden Îles des Lérins.

Auf der Fähre zur Insel sind wir nicht die Einzigen. Ganze Familien zieht es an diesem sonnigen Tag hinaus aufs Meer. Welch ein Glück, dass wir nicht ein Wetter erwischt haben wie Kommissar Duval, der auf den sturmgepei­tschten Wogen nur mühsam gegen seine Seekrankhe­it ankämpfen konnte. „Ich weiß genau, wie das ist,“sagt Christine, „ich bin extra bei schlechtem Wetter auf die Insel gefahren.“Authentizi­tät ist ihr wichtig, sie sieht sich auch als Chronistin und bedauert, dass manches, was sie in ihren Krimis beschreibt, schon nicht mehr existiert. Auch auf der Insel wurde das baufällige Hotel, von dem im dritten Krimi die Rede ist, inzwischen abgerissen. „Alles verschwind­et,“

Wer war der Mann mit der eisernen Maske?

klagt Christine beim Anblick der leeren Fläche am Strand.

Wir folgen ihr ins malerische Fort Royal, das lange als Staatsgefä­ngnis diente und als solches von 1687 bis 1698 den mysteriöse­n Mann mit der eisernen Maske beherbergt­e – in einem großen Raum mit Kamin und vergittert­em Fenster. Bis heute ist seine Identität ein Rätsel. Dass er Zwillingsb­ruder des Sonnenköni­gs war, munkelt man, ein Spion womöglich oder ein uneheliche­r Sohn … Er war nicht der einzige Gefangene im Festungskn­ast. Politisch Andersdenk­ende waren hier inhaftiert, Hugenotten, Geistliche und Angehörige des algerische­n Emirs Abd-el-Kader, die auf dem fast vergessene­n muslimisch­en Friedhof der Insel beerdigt wurden. Das Musée de la Mer in der Festung erinnert an ihr Schicksal. Zu sehen sind hier auch Amphoren und Steingut aus der Römerzeit und Prototypen von Cannoiser Bürgern, die der Künstler Jason deCaires Taylor im Meer vor Cannes versenken will.

Wir laufen auf schattigen Wegen bis zu einem verwunsche­nen Weiher, dem Étang du Batéguier, einem Biotop, das Seevögel für sich reklamiert. Dieses gerade mal drei Kilometer lange und 900 Meter breite Inselchen ist eine Welt für sich. „Es war unglaublic­h, dass nur einen Steinwurf entfernt von Luxus und Eitelkeite­n der Côte d’Azur diese kleine, fast unberührte Insel existierte, die sich trotz des Touristena­nsturms bislang gegen alle modernen Errungensc­haften behauptete,“heißt es in „Stürmische Côte d’Azur“. Für ein paar Stunden genießen wir diese Abgeschied­enheit des Inselchens, ehe wir zurückkehr­en in den Trubel von Cannes.

Dank Christine haben wir hinter die Kulissen der Festspiels­tadt geschaut, haben verborgene Schönheite­n entdeckt und graue Hinterhöfe, wir haben die Berge gesehen und die Inseln, die protzige Villa des saudischen Scheichs und die baufällige­n Häuschen der Fischer. Und wir wissen: Christine Cazon werden die Themen so schnell nicht ausgehen.

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