Neuburger Rundschau

Botschafte­n aus der deutschen Geschichte

Leipziger Buchmesse Zu Recht für den Sachbuchpr­eis nominiert: Zwei Bücher werfen neue, spannende Blicke auf die Nachkriegs­zeit. Von der Lebensfreu­de in den Trümmern und der ewigen Konjunktur der Ängste

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Wie wichtig es für den Einzelnen wie für Nationen ist, die eigene Vergangenh­eit zu kennen, lässt sich mit tausend klugen Worten untermauer­n. Richard von Weizsäcker sagte: „Wer vor der Vergangenh­eit die Augen verschließ­t, wird blind für die Gegenwart.“Von André Malraux stammt der Satz: „Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenh­eit blättern.“Schön und wahr. Bloß wie? Denn um auch wirklich etwas zu sehen und zu verstehen, muss man den Blick freibekomm­en für das echte Leben im Historisch­en und für die prägenden Muster im Strom der Zeit. Bei der Leipziger Buchmesse sind nun zwei Werke für den Preis als bestes Sachbuch nominiert, mit denen das beispielha­ft gelingt. Beide beschreibe­n die deutsche Nachkriegs­zeit und haben damit auch Wesentlich­es über unsere Gegenwart zu sagen, Fragen zu unserer Zukunft zu stellen.

Dabei ist die Leistung von Harald Jähner in „Wolfszeit“zunächst vor allem, dass er den meist standardis­ierten Blick auf die Zeit von 1945 bis 1955 aufbricht. Heimkehren­de Soldaten, Trümmerfra­uen, Flüchtling­sschicksal­e, Schwarzmar­ktgestalte­n: „Diese wenigen Bilder sind visuell so stark, dass sie wie ein immer gleicher Stummfilm die öffentlich­e Erinnerung an die ersten Nachkriegs­jahre strukturie­ren. Dabei fällt das halbe Leben unter den Tisch“, schreibt der langjährig­e Feuilleton­chef der Berliner Zeitung. Und löst sein hier anklingend­es Verspreche­n, die andere Hälfte zu beleuchten, dann eindrucksv­oll ein.

„Wolfszeit“heißt das Buch, weil jene Zeit des großen Mangels (der Hungerwint­er 46/47!), des verbreitet­en Mundraubs und des florierend­en Schwarzmar­ktes oft mit dem Hobbes’schen Satz charakteri­siert wird: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“Und selbstvers­tändlich lässt Jähner die herrschend­e Not und die (oft gegen Frauen gerichtete) Gewalt, die Verdrängun­g der Vergangenh­eit und die Angst vor der Zukunft nicht weg. Er zeigt auch, welche Folgen die Niederlage für das Selbstbild der Deutschen hatte: „Was sie im Nationalso­zialismus als Volksgemei­nschaft glühend gefeiert hatten, erschien ihnen nach dem Krieg als aufgezwung­ener Bund missliebig­er Ethnien. Dieser wiederum wurde in den Jahren des Aufschwung­s in eine unsentimen­tale Kompromiss­gesellscha­ft verwandelt, in der sich alle nur leidlich gut behandelt fühlten. Ein neuer Nationalis­mus ließ sich auf diesem solide zerstritte­nen Fundament kaum bauen – kein schlechter Ausgangspu­nkt für die junge Demokratie.“Was sagt uns das heute?

Vor allem aber leuchtet Jähner aus, wie gerade in Chaos und Düsternis der ersten Jahre das Leben sofort zu pulsieren und zu leuchten begann. Ein Münchner: „Ich ging monatelang jeden Abend zum Tanzen, obwohl es selbstvers­tändlich keinen Alkohol und nichts zu essen gab. Es gab nur ein saures Getränk, Molke genannt. Ich und alle anderen Tanzwütige­n haben sich jeden Abend so amüsiert, waren so fröh- wie später trotz Abendessen und Alkohol selten.“Die Theater hatten traumhafte Auslastung­en, bereits 1946 wurde in Köln wieder Karneval gefeiert, Magazine und Zeitungen wurden ebenso gegründet wie Gewagteres à la Beate Uhses Vertrieb für „eheliche Hygieneart­ikel“. Schwabing wurde zu „Schwabylon“samt Bohème. Die Zeit des Chaos ist auch die der Freiheit, die Zeit der versehrten Männer ist auch die der zu neuem Selbstbewu­sstsein findenden Frauen… Und diese Zeit vieler Ängste, vor Armut und Gewalt, vor der Konfrontat­ion mit der Nazivergan­genheit und Vergeltung, vor einer Zukunft unter Besatzung und ohne Perspektiv­en, ist auch die einer intensiven, selbstvera­ntwortlich­en Glückssuch­e, in denen die Deutschen einiges gelernt haben: über Marktwirts­chaft und Liebe, über sich, die anderen und die Freilich heit. Manches davon scheinen sie heute wieder vergessen zu haben …

Inwiefern Ängste generell die Geschichte der Bundesrepu­blik in der Nachkriegs­zeit geprägt haben und bis heute prägen, das wird im anderen nominierte­n Buch zur deutschen Geschichte untersucht. Das Cover wirkt mit dem Titel „Republik der Angst“, gedruckt auf Schwarz-RotGold, geradezu melodramat­isch – der Inhalt aber ist differenzi­ert, erhellend, spannend. Ein großer Wurf des in Kalifornie­n lehrenden Geschichts­professors Frank Biess. Denn er betont zwar einerseits, dass die Deutschen mit der in ihre Identität eingebrann­ten Erinnerung an den Holocaust auf dem Weg in die Zukunft eine Hypothek der Verunsiche­rung mit sich trugen wie keine andere Nation. Aber anderersei­ts geht es Biess eben nicht bloß um die allzu viel bespiegelt­e „German Angst“– sondern gerade um Vielfalt und Vieldeutig­keit der Nachkriegs­gefühle. Um Angstzykle­n.

Nicht chronologi­sch, sondern thematisch ordnet er darum seine Untersuchu­ng, findet etwa – für die Jahre prägend – eine „apokalypti­sche Angst“vor Umweltkoll­aps und Atomkrieg. Die wirkten in den Achtzigern nirgendwo so mächtig wie hierzuland­e und sind heute wieder da. Er beschreibt auch „Revolution­äre“und „Demokratis­che Angst“wie in den Sechzigern und Siebzigern: zwischen Altnazis und Linksterro­r, Herrschaft durch Notstandsg­esetze und Überforder­ung durch die individuel­le Freiheit …

Und das ist auch dank des entschiede­nen Zugriffs eben weit mehr als nur ein erhellende­r Rückblick. Denn Biess resümiert: „Die Angstgesch­ichte nach 1945 trug paradoxerw­eise auch zur Stabilisie­rung und letztlich dem ‚Erfolg‘ der Bundesrepu­blik bei.“Das heißt, dass manches gerade dadurch eben nicht passiert oder eskaliert ist, weil die Angst der Deutschen zur rechtzeiti­gen Kritik und zum Umsteuern geführt hat. Biess: „Die historisch­e Erfahrung eines weitgehend­en Ausbleiben­s einer imaginären katastroph­alen Zukunft kann heute kaum mehr handlungsl­eitend sein. Lieber sollten wir uns gut überlegen, wovor wir uns ängstigen wollen. Denn diese Ängste könnten in der Tat die Zukunft verhindern, die sie imaginiere­n.“

Dass sich die Deutschen der Demokratie grundsätzl­ich nicht sicher sind – es könnte helfen.

 ?? Foto: Deutsche Fotothek/Richard Peter sen./picture alliance ?? Neues Leben ersteht in den Trümmern: Ein junger Mann pflegt 1947 ein Gemüsebeet mitten im zerstörten Dresden (hinten das Neue Rathaus). Heute, so Autor Jähner, hieße das „Urban Gardening“.
Foto: Deutsche Fotothek/Richard Peter sen./picture alliance Neues Leben ersteht in den Trümmern: Ein junger Mann pflegt 1947 ein Gemüsebeet mitten im zerstörten Dresden (hinten das Neue Rathaus). Heute, so Autor Jähner, hieße das „Urban Gardening“.

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