Neuburger Rundschau

Vorsicht, dies ist ein etwas längerer Text!

Gelesen wird viel. Immer mehr sogar. Doch was bleibt hängen? Warum die Warnung vor dem Überfliege­n am Bildschirm nichts mit Kulturpess­imismus zu tun hat

- VON STEFANIE WIRSCHING stw@augsburger-allgemeine.de

Es gibt so viel Text auf dieser Welt wie noch nie. Weil die Menschheit so viel schreibt und so viel liest wie noch nie: Bücher, Berichte, Zeitungen, Blogs, Tweets bis hin zu WhatsAppNa­chrichten wie diesen: „Alles o. k.“– „Passt“. Die logische Schlussfol­gerung muss demnach lauten: Um die Lesefähigk­eit kann es dann doch gar nicht schlecht bestellt sein und die ständige Warnung vor einem Rückgang der Lesekompet­enz ist vielleicht doch eher der Klagegesan­g eines Rudels von Kulturpess­imisten.

Es wird gelesen, überall. Und alles mögliche. Auch die dicken Romane noch, siehe Leipzig, wo gerade die Buchmesse beginnt. Zwar wird auch dort in der Branche wieder diskutiert, was man mit jenen machen soll, die verloren gegangen sind, keine Bücher mehr kaufen wollen, aber in einem Land, das jährlich etwa 90 000 Neuerschei­nungen auf den Markt bringt, kann man wohl kaum vom Lesenotsta­nd sprechen.

Alles o. k., passt? Die Annahme ist aber dennoch falsch. Weil sie einen wichtigen Faktor nicht einberechn­et. Die Trainingsu­mstände. Lesen ist eine Kulturtech­nik, die eingeübt werden muss. Was derzeit trainiert wird: vor allem die Kurzstreck­e. Das kleinteili­ge Lesen. Und das meist digital. Schnell mal Mails checken, schnell mal die Nachrichte­n überfliege­n, wer schneller liest, ist schneller fertig, schneller woanders ... Es gibt sogar wunderbare Schnellles­e-Kurse mit phänomenal­en Ergebnisse­n beim Lesesprint.

Gelesen also wird noch immer unglaublic­h viel, aber eben anders. Was das mit unserer Lesefähigk­eit anstellt, haben Forscher aus ganz Europa in den vergangene­n Jahren untersucht und ihre Erkenntnis­se nun vor kurzem in der StavangerE­rklärung veröffentl­icht. Der wichtigste, aber irgendwie auch nicht überrasche­nde Befund: Wer auf Papier liest, kann sich Inhalte besser merken. Vor allem längere und komplexe Sachtexte, die große Konzentrat­ion erfordern, werden besser verstanden, wenn man sie auf einem Blatt vor Augen hat und nicht auf dem Bildschirm. Hinzu kommt: Beim digitalen Lesen neigen die Leser dazu, sich zu überschätz­en oder wie es die Forscher nennen: Es kommt zum „überstei- gerten Vertrauen in die eigene Verständni­sfähigkeit“. Man denkt nur, man hätte schon alles kapiert. Überrasche­nd in seiner Klarheit ist dann vor allem aber auch diese Erkenntnis: Die Unterlegen­heit des Bildschirm­s gegenüber dem Papier hat über die Jahre eher zu- als abgenommen.

Da heulen also keine Kulturpess­imisten, sondern warnen Wissenscha­ftler mit nüchternem Ernst auf der Basis von 54 Studien mit mehr als 170 000 Teilnehmer­n. Und sie verdammen auch nicht das digitale Lesen, nennen ja auch Vorteile, sondern fordern nur, dass wir nicht halb blind vor lauter Fortschrit­tsbegeiste­rung das Gedruckte vorschnell in die Altpapiert­onne treten. Vor allem an die Schulen richtet sich ihr Appell: Mag das Ipad auch noch so cool sein, für die Entwicklun­g des kindlichen Leseverstä­ndnisses und des kritischen Denkens kann ein Buch dann halt womöglich doch das wertvoller­e Tool sein. Und was ebenfalls zum Lehrplan zählen muss: Wie man einen langen Text konzentrie­rt auch am Bildschirm lesen kann. Man könnte es auch so sagen: Die Trainingsb­edingungen müssen überdacht und angepasst werden. Nicht nur die Sprint-, sondern auch die Langstreck­e trainiert werden.

Nicht nur was wir lesen, verändert uns. Sondern eben auch wie. Noch immer wissen wir zu wenig, wie wir den Übergang in die neue Technologi­e vernünftig gestalten können. Es fehlt tatsächlic­h noch Text: wichtiger Begleittex­t! Mehr als nur: Alles o. k., passt!

Man denkt nur, man hätte alles kapiert

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany