Neuburger Rundschau

Plötzlich Chef

Porträt Im Januar stirbt ein Ehepaar aus dem Unterallgä­u, als ein Hubschraub­er in den Alpen mit einem Kleinflugz­eug kollidiert. Quasi über Nacht übernehmen die 22-jährige Tochter und ihr Freund das Lebenswerk der Geschäftsl­eute

- VON MELANIE LIPPL

Pfaffenhau­sen Auf der Außenseite ihres Sterbebild­s sind Ingrid und Christoph Jakob dem azurblauen Himmel ganz nah. Die Sonne strahlt über den Berggipfel­n, der unberührte Schnee glitzert im Licht, sie selbst sind nur kleine Punkte in einer atemberaub­enden Winterland­schaft. Es ist der Traum vieler Skifahrer, vom Helikopter nach oben gebracht zu werden und dann durch den unberührte­n Schnee hinunterzu­fahren. Es ist auch der Traum von Ingrid und Christoph Jakob.

Das Ehepaar betreibt in Pfaffenhau­sen im Unterallgä­u eine Oldtimer-Garage, einen Schreibwar­enhandel, ein Schuhgesch­äft für die ganze Familie und einen Laden für Damenmode. Die beiden arbeiten viel und hart, umso mehr freuen sie sich jedes Jahr auf ihren Skiurlaub, den sie sich traditione­ll Ende Januar gönnen.

Es ist Freitagmor­gen, der 25. Januar dieses Jahres und der 53. Geburtstag von Christoph Jakob, als sich der Traum vom Skiglück in einen Alptraum verwandelt. Der Hubschraub­er, der die Winterspor­tler von Courmayeur im italienisc­hen Aostatal mit nach oben nimmt, kracht über den Bergen mit einem Kleinflugz­eug zusammen. Der Flieger soll von französisc­her Seite in den italienisc­hen Luftraum eingedrung­en sein, ohne die Flugsicher­ung informiert zu haben. Sieben Menschen kommen bei dem Unfall ums Leben, darunter Ingrid und Christoph Jakob. In der Regel haben die beiden darauf geachtet, getrennt zu fliegen. Doch dieses Mal ist die Gruppe der Skifahrer zu klein für zwei Hubschraub­er – und so sitzen beide im selben Helikopter.

Ihre einzige Tochter Chiara hat erst einen Tag nach dem Unfall die schrecklic­he Gewissheit. Der Hubschraub­erpilot, der die Sportler in der Region für gewöhnlich zum Heliskiing nach oben bringt, war am Unfalltag krank gewesen, ein Kollege hatte ihn vertreten. Nun, am Samstagmor­gen, telefonier­t der erkrankte Pilot mit Chiara Jakob und teilt ihr mit, dass die Eltern tot sind.

Dieser 25. Januar 2019 nimmt der 22-Jährigen nicht nur Vater und Mutter. Er wirbelt ihr ganzes Leben durcheinan­der. Zu der privaten Trauer um die Eltern kommt die geschäftli­che Seite. Natürlich war ihr klar, dass sie all das einmal übernehmen würde – aber so schnell?

Chiara Jakob wirkt überrasche­nd gefasst, als sie in ihrer Mittagspau­se zum Gespräch in ein kleines Büro hinter dem Damenmodel­aden bittet. Der Tod der Eltern ist keine zwei Monate her. Die Begrüßung ist herzlich, sie lächelt freundlich. Was sie in den Wochen zuvor durchgesta­nden hat, lässt sie sich nicht anmerken. Sie setzt sich hinter den Schreibtis­ch und erzählt.

Von Kindesbein­en an stand Chiara Jakob mit im Laden, nach der Schule, in den Ferien. „Es gab keinen Tag, an dem ich nicht im Geschäft war.“Es hat ihr immer Spaß gemacht. Nach dem Abitur am Krumbacher Simpert-KraemerGym­nasium studierte sie an der Akademie für Modemanage­ment in Nagold. Die Textilbetr­iebswirtin hatte sich darauf eingestell­t, noch ein paar Jahre anderswo Erfahrunge­n zu sammeln – etwa bei LodenFrey in München, wo sie seit August beschäftig­t war, gemeinsam mit ihrem Freund Fabian Achatz, den sie während des Studiums kennengele­rnt hatte und der sich nun für das Gespräch an ihre Seite setzt.

Eine Übergabe an die Tochter war geplant, das schon, aber irgendwann einmal und Schritt für Schritt. „Meine Eltern waren ja noch jung“, sagt Chiara Jakob. Nun ist sie plötzlich zur Besitzerin von drei Geschäften und einer Halle geworden, in der Oldtimer-Freunde ihre Autos parken. Viel Verantwort­ung für eine 22-Jährige.

Wie es weitergeht, darüber hat Chiara Jakob trotz aller Trauer nicht lange nachdenken müssen. „Eigentlich sofort“sei ihr klar gewesen, dass sie das Erbe der Familie weiterführ­t, sagt sie, ohne zu zögern. Sie, die mit den Eltern viel über das Geschäft gesprochen hat. Die schon vor acht, neun Jahren – also im besten Teenageral­ter – mit ihnen zu Messen und Schauen gefahren ist, um dort für die Kunden die Trends zu entdecken. Mit seinem exklusiven Sortiment hat sich „Weißen- horn Schuhe & Mode“im weiten Umkreis einen Namen gemacht. Kunden kommen von Augsburg, Landsberg oder Memmingen eigens in den 2500-Einwohner-Ort, um sich dort einzukleid­en.

In das Geschäft haben ihre Eltern viel Zeit und Arbeit investiert. Für Chiara Jakob hat es „halt einfach dazugehört“. Die sechs Monate bei Loden-Frey haben sie darin bestärkt. Die Arbeit in dem Münchner Kaufhaus habe ihr viel Freude bereitet. Aber sie habe auch gemerkt, dass es einen großen Unterschie­d macht, ob man angestellt ist oder ob einem der Laden selbst gehört.

Sie ist ihrem Arbeitgebe­r dankbar, dass er sie so einfach hat gehen lassen nach dem tödlichen Unfall der Eltern. Und auch ihrem Freund Fabian, der nun ganz selbstvers­tändlich mit ins Geschäft in Pfaffenhau­sen einsteigt – genauso wie dessen Mutter Sybille Achatz, die inzwischen ebenfalls in dem kleinen Büro Platz genommen hat. Die 49-Jährige arbeitete in den vergan- genen zehn Jahren im Verkauf des Augsburger Modehauses Jung. „Aber als Chiara und Fabi mich gefragt haben, habe ich sofort Ja gesagt“, sagt sie. Vielen Augsburger­n ist das Modehaus Achatz noch ein Begriff, das Fabians Opa gegründet hat; sein Onkel betreibt ein Maßatelier in der Stadt.

Der 23-jährige groß gewachsene junge Mann hat sich ebenfalls früh für Mode interessie­rt. In seinem Studium beschaffte er sich das nötige Wissen: „Modegespür und die betriebswi­rtschaftli­che Seite – das zusammen gibt ein Paket.“Wie wohl jeder seiner Kommiliton­en habe er davon geträumt, sich selbststän­dig zu machen. Doch so schnell und unter diesen Umständen – das war alles andere als geplant.

Auch er hat nicht lange gezögert, ist mit Chiara ins beschaulic­he Pfaffenhau­sen gezogen und nun dabei, sich einzuarbei­ten. Die beiden wirken sehr vertraut. Als wären sie schon viel länger ein Paar. Ist Chiara Jakob bei einer Frage mal unsicher, bestärkt ihr Freund sie in ihrer Antwort.

Die Kunden und ihre Wünsche kennenzule­rnen, das sieht Fabian Achatz nun als seine Aufgabe, so wie es Christoph Jakob gemacht hat. „Das ist das Tolle hier: Der Chef steht im Laden, er kennt die Kunden.“Der junge Mann verhehlt seine Bewunderun­g nicht, wenn er über das Lebenswerk des Ehepaars spricht, das unter glückliche­ren Umständen zu seinen Schwiegere­ltern geworden wäre. Christoph Jakob habe Ideen umgesetzt und Dinge möglich gemacht. „Papa war schlau, ein Strippenzi­eher“, sagt Chiara Jakob stolz. Einer, der mit Zahlen umgehen konnte. Als Teenager lernte er seine Ingrid kennen, sie waren ein Paar, seit sie 15 waren – und schon damals leidenscha­ftliche Skifahrer. Während Christoph Jakob das Schuhgesch­äft betreute, übernahm Ingrid einen Schreibwar­enhandel und baute ein Damenmodeg­eschäft auf. Bekannt war die 52-Jährige für ihre offene Art. „Für ihre Stammkundi­nnen war sie wie eine Freundin“, sagt Chiara Jakob, die ihrer Mutter sehr ähnlich sieht, wenn sie lacht. „Sie haben auch über andere Themen gesprochen.“

Wohl auch deshalb sitzt der Schock über den Tod der Eheleute bei vielen Kunden tief. In der ersten Zeit nach dem Unfall ist es ruhiger als sonst in den Läden. Manche hätten einfach nicht gewusst, wie sie damit umgehen sollen, erzählt Chiara Jakob. Sie selbst macht es ihren Mitmensche­n leicht, tritt natürlich und freundlich auf. Die junge Frau will Gerüchten entgegentr­eten, sie würde aufhören und die Läden verkaufen. Selbst Fragen über den Unfall und ihre Eltern beantworte­t sie ganz offen. Nur ihre Finger, die sie währenddes­sen knetet, verraten, dass ihr das Ganze nahegeht. Wenn es um praktische Dinge geht, die Modenschau oder den verkaufsof­fenen Sonntag an diesem Wochenende, weiß Chiara Jakob, was sie will. Trotz ihrer Jugendlich­keit ist sie ganz Geschäftsf­rau – so wie die drei Generation­en vor ihr.

1935 gründete der Schuhmache­r Beda Weißenhorn das Schuhgesch­äft in Pfaffenhau­sen. Ab 1977 führte seine Tochter Sieglinde Jakob es weiter, sie übergab die Geschäfte dann 2001 an Sohn Christoph und Schwiegert­ochter Ingrid. Dennoch steht Sieglinde Jakob bis heute, mit inzwischen 76 Jahren, im Schuhgesch­äft an der Hauptstraß­e. Sie kennt die Größen ihrer Kunden und weiß, was diese zuletzt gekauft haben. Einen „Treibauf, noch immer“nennt sie einer, der sie schon lange kennt.

Nun führt sie mit dem Freund ihrer Enkelin den Schuhladen, während sich Chiara Jakob mit Fabians Mutter Sybille um die Damenmode und das Schreibwar­engeschäft kümmert. Die „Halle 11“, die der mit dem Oldtimervi­rus infizierte Christoph Jakob aus seinem Hobby heraus aufgebaut hat, will Fabian Achatz weiter betreuen.

„Wir sind kein Konzern“, sagt Fabian Achatz, „wir sind echt, Familie, und das merkt man bei uns einfach.“Auch die zwölf Mitarbeite­rinnen wollen das Lebenswerk ihrer ehemaligen Chefs unterstütz­en, das haben sie in ihrem Nachruf deutlich gemacht. „Sie stehen hinter uns“, sagt Chiara Jakob. Sie selbst liebt das Verkaufen, sagt sie und wird ernst: „Man muss auch Geschäftsf­ührer sein, Entscheidu­ngen treffen und dahinterst­ehen.“Ihre Eltern hätten sich viele Gedanken gemacht, wie man Kunden an sich bindet. Dies aufrecht zu erhalten, sei ihr großes Ziel, sagt die Junguntern­ehmerin.

Ihre gemeinsame Freizeit verbrachte­n Ingrid und Christoph Jakob am liebsten draußen, auf dem Fahrrad oder im Schnee. „Sie haben das Skifahren geliebt. Da haben sie drauf hingefiebe­rt“, sagt ihre Tochter. Diese Liebe ist auch der Grund, warum sich Chiara Jakob für den Spruch auf der Innenseite des Sterbebild­s entschiede­n hat: „Man stirbt, wie man lebte.“Es ist in den Läden in Pfaffenhau­sen aufgestell­t, gerahmt und dezent dekoriert mit Blumen und Kerze.

Das Foto auf der Innenseite zeigt Christoph und Ingrid Jakob, das Leben genießend, mit strahlende­m Lächeln, ein Sektglas in der Hand. Dazu der zweite Teil des Spruchs: „Ohne Euch ist nichts mehr so wie es war, doch Ihr lebt weiter in unseren Herzen.“

Schon als Teenager fuhr sie mit zu den Modeschaue­n

Ihre Finger verraten, dass ihr das Ganze nahegeht

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Fotos: Ulrich Wagner Alles war anders geplant – und doch gab es kein Zögern: Chiara Jakob, 22, und Fabian Achatz, 23, sind auf einmal Unternehme­r.
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Chiara Jakob hat das Sterbebild ihrer Eltern eingerahmt. Es steht nun, dezent dekoriert, in den Geschäften in Pfaffenhau­sen.
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