Eine riesengroße Schlawinerei
Das Staatstheater Augsburg spielt Vergangenheit und bietet treuherzig alte Operette: Franz Lehárs „Lustige Witwe“kommt über süßen Firlefanz nicht hinaus
Augsburg Nein, man muss Franz Lehárs „Lustige Witwe“nicht im Nationalsozialismus und damit quasi als Lieblingsoperette Hitlers inszenieren. Nein, man muss die Millionen dieser jungen Witwe auch nicht als Profit aus der Rüstungsindustrie vor dem Ersten Weltkrieg begreifen. Des Weiteren braucht niemand Karl Kraus zu folgen, der das Stück als das Widerwärtigste begriff, was er je auf dem Theater sah. Und niemand muss auch Tucholsky glauben, dass Puccini der Verdi des kleinen Mannes ist und Lehár dem noch kleineren Mann sein Puccini. All dies ist alles andere als ein Muss.
Aber wenn heute eine lustige Witwe auf die Bühne tanzt, dann sollte man schon irgendeine Idee, einen Zugriff, eine Brechung, eine zweite Ebene anbieten, um darzulegen, warum und weshalb diese Tanzoperette – über ihre Musik hinaus – gegeben wird. Sei es die UrIdee der Verhohnepipelung deutscher Kleinstaaterei – frei nach Jacques Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“–, sei es der folgende Versuch, die ganz konkrete Balkan-Monarchie Montenegro auf die Schippe zu nehmen – da schritt die Schere im Kopf ein –, sei es in Form von Ironie, sei es als Dokumentation des Humors unserer Urgroßeltern, sei es als Durchleuchtung einer mehrköpfigen politischen MännerGesandtschaft, die allerbeste, nämlich Stammkundschaft in solchen Etablissements ist, wo Zuneigung und weite Öffnung ein Preisschildchen besitzen. Irgendwie so. Oder irgendwas anderes.
Das Staatstheater Augsburg aber und die vierköpfige weibliche Produktionscrew mit Regisseurin Andrea Schwalbach an der Spitze verzichten auf nachhakende Gedanken. Rechts ein bisschen blauäugig, links ein bisschen blind, wird Operette anlässlich Ballsaison, Silvester und Fasching so geboten, wie sie das deutsche Stadttheater so oder so ähnlich schon immer krankengepflegt hat: von dunnemals. Am Staatstheater wird treuherzig, nostalgisch und sentimental Vergangenheit gespielt. Eins zu eins.
Zweimal an diesem Abend – ziemlich am Anfang – kommt man kurz auf die Idee, es könnte hinter diesem süßen Firlefanz was stecken: wenn eine Flüchtlingsschar Einlass in die pontevedrinische Pariser Botschaft begehrt und wenn langhaxige Abend- und Nachtgesellschafterinnen wie mechanische Gliederpuppen zucken (Sexarbeiterinnen als Marionetten?). Aber das wird nicht weiter aus- und durchgeführt, das bleibt kurze Behauptung ohne Folge. Es verpufft schnell und wird des Vergessens magere Beute.
Statt dessen betritt den Raum: der Schwank. In ihm zieht sich mancher, auch die Regisseurin, aus der Affäre. Das Ganze also eine riesengroße Schlawinerei. Man hangelt sich im gut aufgelegten Bühnenbild von Nanette Zimmermann von Fest zu Fest. Bunt geht’s zu, bewegt geht’s zu – jedenfalls nach der Pause, ein bisschen schrill geht’s zu und ein bisschen spießig – aber nicht zu viel. Es wird animierend gelacht und gequietscht, und die Mädels mit den kirre machenden Strumpfbändern jauchzen. Ein hübsches Spaßettl hier, öfter gequälte Spompanadeln dort; mal ironisches Pathos, öfter falsches Pathos. Höhepunkt der Sause, des Talmi-Gaudis, der Revue: Wenn die Männergesandtschaft in Röcken, Perücken und mit umgeschnallten Büstenhaltern messerscharf feststellt, dass das Studium der Weiber schwer sei. Erschreckend albern. Auf diese Szene zwei Dujardin.
Und um gleich noch mal in dem über Stock und Stein gehenden Humor dieser Produktion zu bleiben: Richtige Männer können sich schadlos halten. Ihnen dürfte bei Stielaugen das Wasser im Munde zusammenlaufen angesichts der langen, schlanken, blanken, geworfenen Cancan-Oberschenkel der Grisetten. Indessen hat die lustige Witwe ihre 20 Millionen abzuliefern. An den Herrn Zukünftigen.
Um fairerweise aber auch etwas Überraschendes festzuhalten von diesem tradiert-gschlamperten Tralala: Die musikalischen Einlagen von Bühnenklavier und Stehgeigerin zeigen Originalität. Und fairerweise ist ebenfalls festzuhalten: Der breiteren, wenn nicht breiten Mehrheit im Publikum hat’s gefallen – woraus allerdings nicht automatisch die Notwendigkeit einer Jubelarie an dieser Stelle abzuleiten ist.
Womit wir bei der Musik wären, die die gelegentlich unter Domonkos Héja ebenfalls schlawinernden Augsburger Philharmoniker mit französischem Tanz-Schmiss und Wiener Dreh-Schmäh, aber auch mit tränenseliger BalkanmonarchieRührung überbrachten. Fast alle Sänger waren nicht nur Rollen-, sondern auch Operettendebütanten, was kaum zu bemerken war, weil insgesamt kräftig vom Leder gezogen wurde.
Menschlich-darstellerisches Format und bis vor das Finale auch großes vokales Format bewies Alejandro Marco-Buhrmester als Graf Danilo. Diesem Filou ist schwer böse zu sein, trotz seiner Schäferstündchen mit u. a. Lolo und Dodo. Und Jihyun Cecilia Lee als blutjunger Witwe ist bei aller Frauenlist ihre große Liebe zu dem Herzensbrecher und Freudenhausbesucher Danilo abzunehmen: Ihr Sopran ertönt beseelt, er leuchtet, er könnte aber auch noch eine Spur voluminöser sein. Und dann gibt es noch das Paar Baron Mirko Zeta und Frau Baronin Valencienne, die sich für bestimmte Stunden das Austauschmodell Camille hält (schön fokussiert, aber etwas eng in der Höhe: Roman Poboinyi). Stanislav Sergeev gibt den von Begriff etwas langsamen Baron; Olena Sloia sauber, frisch und psychisch überspannt die Frau Baronin. Bei ihr gilt Ähnliches wie bei Jihyun Cecilia Lee: noch ausbaufähige Fülle des Wohllauts.
ONächste Vorstellungen 15., 18., 31. Dezember, 2., 7., 17. Januar