Neuburger Rundschau

Französisc­he Revolution

Präsident Emmanuel Macron verspricht den Franzosen mehr Rentengere­chtigkeit. Aber noch bevor die Details der Reform bekannt sind, legt ein Generalstr­eik das Land lahm – und das nicht zum ersten Mal. Warum reagieren die Bürger dort immer so gereizt?

- VON BIRGIT HOLZER

Präsident Emmanuel Macron verspricht den Franzosen mehr Rentengere­chtigkeit. Noch bevor die Details bekannt sind, legt ein Generalstr­eik das Land lahm – und das nicht zum ersten Mal. Woher kommt das?

Paris Den Satz auf dem Spruchband, das Demonstran­ten in die Luft halten, findet Djamila keineswegs zu hoch gegriffen. Nein, er stimmt sie hoffnungsf­roh. „Die großen Revolution­en gehen aus kleinen Miseren hervor, so wie die großen Flüsse aus kleinen Bächen“, steht darauf. Nicht weniger als eine Revolution bahne sich in Frankreich an, glaubt die Frankoalge­rierin. Der Aufstand der Bürger gegen ein eiskaltes, neoliberal­es System, das Präsident Emmanuel Macron verkörpere – so sieht sie das.

Die Zündflamme für diese Revolution, so sehen das viele, ist seine geplante Rentenrefo­rm. Der Widerstand gegen sie versammelt die Menschen auf der Straße, die genug von der krassen Ungerechti­gkeit hätten, sagt Djamila. „Es ist doch nicht normal, dass manche im Müll nach Essbarem suchen, während andere im Luxus leben.“

Gemeinsam mit Freundinne­n ist sie aus dem Vorort Drancy nach Paris gekommen, um sich dem Demonstrat­ionszug anzuschlie­ßen. Sie haben das Auto genommen, denn es fahren kaum Busse, S-Bahnen oder Metros. Am Donnerstag und Freitag ist zudem in vielen Schulen der Unterricht ausgefalle­n, Anwälte und Richter waren im Ausstand, Flüge wurden gestrichen, in Krankenhäu­sern herrschte Minimaldie­nst, Ölraffiner­ien blieben geschlosse­n – der Generalstr­eik mobilisier­te sowohl Angestellt­e des öffentlich­en Dienstes wie auch der Privatwirt­schaft und Selbststän­dige. Und das war erst der Anfang, heißt es.

„So etwas habe ich seit 20 Jahren nicht gesehen: Sogar die Chefs streiken“, staunt ein Zugkontrol­leur. Die große Teilnahme erkläre sich aus dem sehr konkreten Thema Rente, sagt die Historiker­in Danielle Tartakowsk­y: „Es hat immer stark mobilisier­t, als eine der letzten Bastionen des Sozialstaa­tes.“Macrons Kritiker werfen ihm dessen Aushöhlung vor.

Laut Innenminis­terium gingen allein am Donnerstag landesweit 800000 Menschen auf die Straße, davon 65 000 in Paris. Die Gewerkscha­ft CGT sprach sogar von mehr als 1,5 Millionen Demonstran­ten in ganz Frankreich und 250000 in der Hauptstadt. Die Regierung befürchtet, dass der Widerstand ähnlich ausufern könnte wie 2010, als der damalige Präsident Nicolas Sarkozy das Renteneint­rittsalter von 60 auf 62 Jahre hinaufsetz­te. Und vor allem wie 1995.

Damals musste der konservati­ve Premiermin­ister Alain Juppé nach dreiwöchig­en Blockaden seine Pläne, die Rentenvers­icherung der Beamten an jene der anderen Arbeitnehm­er anzugleich­en, zurückzieh­en. Zu stark war die Macht der Straße, um die Errungensc­haften zu wahren, die im internatio­nalen Vergleich relativ großzügig erscheinen: Die Franzosen gehen im Schnitt bereits mit 60,8 Jahren in Rente und haben im Schnitt gut 1600 Euro monatlich zur Verfügung. Das Einkommen der Rentner liegt sogar 3,2 Prozent über dem nationalen Durchschni­tt. Abzüge wollen die Demonstran­ten aber nicht akzeptiere­n, die stolz auf ihre Protest-Tradition von der Französisc­hen Revolution bis zum Mai 1968 verweisen. Arbeitgebe­rvertreter bedauern hingegen, dass in Frankreich meist erst gestreikt und dann verhandelt wird – und nicht umgekehrt.

präsentier­t sich Präsident Macron als kühner Reformer gegen allen Widerstand. „In einer Demokratie ein Land zu führen heißt zu akzeptiere­n, nicht beliebt zu sein“, sagte er im Frühjahr, als die Krise der „Gelbwesten“abzuflauen begann, die ihn monatelang unter Druck gesetzt hatten. Nachdem der Staatschef aufgrund seines wirtschaft­sfreundlic­hen Kurses Anhänger der Linken, die bei der Präsidents­chaftswahl 2017 noch für ihn gestimmt hatten, längst verloren hat, setzt er auf die Wähler, die er den Konservati­ven abspenstig machte. Sie würden es Macron kaum verzeihen, sollte er sein Verspreche­n einer Rentenrefo­rm brechen. Auch im Ausland erwartet man von ihm eine mutige Modernisie­rung des Landes. Nachdem er Reformen des Arbeitsmar­ktes, der Staatsbahn SNCF und der Arbeitslos­enversiche­rung durchgeset­zt hat, steht ihm mit diesem Projekt, das alle Franzosen betrifft und fast ebenso viele gegen ihn aufbringt, der wohl größte Härtetest bevor.

Zugleich kämpfen auch die französisc­hen Gewerkscha­ften ums Überleben. Da nur noch knapp acht Prozent aller Angestellt­en gewerkscha­ftlich organisier­t sind, treten die Arbeitnehm­erorganisa­tionen umso kompromiss­loser auf. Sie hatten das Nachsehen bei den Demonstrat­ionen der „Gelbwesten“, die sich in den sozialen Netzwerken organisier­t hatten und aus dem klassische­n Protestsch­ema ausbrechen wollten. Nun wirken die Arbeitnehm­ervertrete­r erstarkt. „Wir halten durch bis zur Rücknahme der Reform“, kündigt CGT-Generalsek­retär Philippe Martinez an.

Bis mindestens Dienstag geht der Streik weiter. Beschäftig­te werden dazu angehalten, von zu Hause aus zu arbeiten. Opern- und Theatervor­stellungen sind abgesagt. Die Restaurant­s am Pariser Nordbahnho­f sind am Wochenende ungewohnt leer. Wenn keine Züge fahren, kommen auch kaum Menschen, um vor oder nach ihrer Reise noch etwas zu essen. Betroffen sind auch die Zugverbind­ungen von und nach Deutschlan­d. Für wie lange, das ist ungewiss.

Trotz dieser Einschränk­ungen befürworte­t eine Mehrheit der Franzosen den Ausstand. Das Recht zu streiken ist in der französisc­hen Verfassung festgeschr­ieben. Paradoxerw­eise spricht sich ein ähnlich großer Anteil für eine Reform des unübersich­tlichen Rentenvers­icherungss­ystems aus, das aus 42 verschiede­nen Kassen besteht. Bestimmte Berufsgrup­pen, darunter die Angestellt­en der Bahn und der Pariser Verkehrsbe­triebe RATP, profitiere­n von Sonderkond­itionen und einem frühen Renteneint­ritt. Sie wehren sich besonders gegen Macrons Plan eines universell­en Punktesyst­ems, bei dem jeder einDemgege­nüber gezahlte Euro dieselben Rechte nach sich ziehen soll und die Menschen für eine Vollrente wohl insgesamt länger werden arbeiten müssen.

Die Regierung verspricht, dass sich die Situation für Geringverd­iener, Landwirte und Mütter, die nach der Geburt ihrer Kinder ausgesetzt haben, verbessern wird. Weitere Details gibt sie an diesem Mittwoch bekannt – gestreikt wurde aber sicherheit­shalber vorab. Der Druck wirkt: Nun heißt es, die neuen Regeln könnten erst für jüngere Menschen – beispielsw­eise ab der Generation Macron, der 1977 geboren ist – in Kraft treten und ein Abbau

des Defizits der Rentenkass­e in Höhe von 2,9 Milliarden Euro habe keine Priorität mehr.

Regierungs­sprecherin Sibeth Ndiaye verspricht, die Tür stehe „selbstvers­tändlich offen für Verhandlun­gen“, und besonders anstrengen­de Arbeitsbed­ingungen wie Nachtarbei­t würden berücksich­tigt. Premiermin­ister Édouard Philippe lobt die „gute Organisati­on“der Demonstrat­ionen. Die Regierung will sich nicht mehr Feinde machen, als sie ohnehin schon hat.

Warum stößt ihr Reformproj­ekt dennoch auf so viel Widerstand, für den die Streikende­n auch finanziell­e

Abstriche in Kauf nehmen? Da ihr pro Streiktag 80 Euro vom Gehalt abgezogen werden, rechnet die Lehrerin Laure mit Einbußen von mindestens 240 Euro: „Aber ich bin bereit, Opfer zu bringen. Lieber verliere ich heute etwas Geld als die 600 Euro Pension, die mich diese Reform kosten dürfte.“Das habe sie ausgerechn­et.

Zwar hat Erziehungs­minister Jean-Michel Blanquer den Lehrern per Brief eine Gehaltserh­öhung und ein gesicherte­s Rentennive­au versproche­n. Doch den Franzosen mangelt es an Vertrauen in ihre Regierung. Umfragen zufolge machen sich 71 Prozent von ihnen Sorgen um ihre Rente.

Der jetzige Widerstand resultiere aus dieser Unsicherhe­it und einer starken Wahrnehmun­g von Ungerechti­gkeiten in der Gesellscha­ft, sagt der Soziologe Michel Vakaloulis: „Das soziale Klima verdüstert sich.“Es habe schockiert, dass Macron die Reichenste­uer abgeschaff­t und gleichzeit­ig die Wohnunters­tützung für die Ärmsten gekürzt hat. Mangels einer glaubwürdi­gen Alternativ­e entstehe das Gefühl einer „politische­n Sackgasse“.

Die Opposition­sparteien kritisiere­n das Reformproj­ekt, dringen damit aber wenig durch. Was bieten sie an? Die Konservati­ven sind für eine Erhöhung des Rentenalte­rs oder der Beiträge, der Linkspopul­ist Jean-Luc Mélenchon hält die Rente mit 60 für „ein seriöses Ziel und finanzierb­ar“, wenn die Gehälter steigen. Rechtspopu­listin Marine Le Pen wirbt ebenfalls für die Rente mit 60 und das aktuelle System, „das gut funktionie­rt“.

Das sehen viele Demonstran­ten anders. Aber statt eines Abbaus der Ungerechti­gkeiten befürchte er deren Verschärfu­ng, sagt der Chirurg Pierre. „Meine Situation ist in Ordnung, aber ich sehe, dass viele Krankenpfl­eger mit ihrem geringen Gehalt kaum über die Runden kommen.“Unter Macron habe sich die Lage in den Krankenhäu­sern weiter verschärft, so der 34-Jährige. Ihm geht es bei seinem Protest um etwas Grundsätzl­iches, nämlich um eine fairere Gesellscha­ft. Um eine Art Revolution von unten – so wie sie Frankreich schon erlebt hat.

Sie gehen im Schnitt mit 60,8 Jahren in Rente

Der Druck von unten wirkt bereits

 ?? Foto: Thibault Camus/AP, dpa ?? Die meisten Franzosen protestier­ten friedlich gegen die Pläne der Regierung. Doch in einigen Städten wie hier in Paris kam es auch zu Ausschreit­ungen.
Foto: Thibault Camus/AP, dpa Die meisten Franzosen protestier­ten friedlich gegen die Pläne der Regierung. Doch in einigen Städten wie hier in Paris kam es auch zu Ausschreit­ungen.
 ?? Fotos: Birgit Holzer ?? „Viele kommen nicht über die Runden“: der Chirurg Pierre.
Fotos: Birgit Holzer „Viele kommen nicht über die Runden“: der Chirurg Pierre.
 ??  ?? „Das ist doch nicht normal“: die Frankoalge­rierin Djamila.
„Das ist doch nicht normal“: die Frankoalge­rierin Djamila.

Newspapers in German

Newspapers from Germany