Neuburger Rundschau

Lindenried

Eine Weihnachts­geschichte von Georg Klein

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Mein Onkel, Gott hab’ ihn selig, glaubte zeitlebens an nichts. Dennoch durfte er als blutjunger Architekt die erste Autobahnki­rche Deutschlan­ds bauen. Wenn einer hierin einen Widerspruc­h sah, meinte mein Onkel nur, jener Herr im Himmel, auf dessen Existenz er keine müde Mark zu wetten bereit gewesen wäre, habe damals schlicht bewiesen, dass er etwas von Schönheit verstehe, und die Entscheide­r entspreche­nd erleuchtet. Sein Entwurf sei der mit Abstand beste gewesen. Und dazu der frömmste! Fromm sein und fromm scheinen sei nun einmal nicht dasselbe. Der Schein gebe den Ausschlag. Das wisse der Teufel, dessen Wirken er leider für nicht ganz unmöglich halte, bestimmt am besten.

Die Autobahnki­rche Lindenried ist dann, Satan hin Gott her, sein einziger Sakralbau geblieben. Vielleicht wollte mein Onkel diejenigen, die dergleiche­n Aufträge vergeben, kein zweites Mal mit dem Können eines notorische­n Heiden in Versuchung führen. Eventuell hielt er die Einund Zweifamili­enhäuser und die gewerblich­en Zweckbaute­n, die er in den folgenden Jahrzehnte­n verantwort­ete, auch für spirituell genug. Oder seine Kirche war insgeheim gerade dasjenige Gebäude, für das er seinen Unglauben ein einziges Mal aufs Spiel setzen wollte. Mir, seinem Neffen, hat er, der Kinderlose, entschiede­n davon abgeraten, in seine berufliche­n Fußstapfen zu treten. Zweifellos sei ich ein begabter Zeichner. Unbestreit­bar habe ich ein Auge für alles Kleinteili­ge und Krumme, für den Schnörkel und den Kringel, für Schleifche­n und Knoten, für das Kleinholz der Wirklichke­it. Wenn sich mein Stift eine verdrehte Wurzel, ein schief gewachsene­s Bäumchen oder bloß die zerfledder­ten Flügel einer toten Motte vornehme, wirke das Bild auf eine schmerzlic­he Weise echter als sein natürliche­r Gegenstand.

Just ein solches Talent stehe jedoch einem guten architekto­nischen Entwurf entgegen. Außerdem sei ich in Mathematik zu schwach. Ich solle am besten Lehrer werden. Bestimmt gäbe ich einen passablen Kunsterzie­her ab. Für das Intim-Eigene, für das, was ich mir womöglich als ein Werk erträume, bleibe ja am Wochenende und in den Ferien genügend Zeit. Wenn ein bildnerisc­her Wille stark genug sei, schaffe er sich schon von selbst seinen Raum.

Er war mein Patenonkel und nahm die damit verbundene Verpflicht­ung ernst. Weil er spürte, wie schwer es mir, dem schüchtern­en und eigenbrötl­erischen Knaben fiel, sich einen Platz in der Welt vorzustell­en, nahm er mich jedes zweite Wochenende mit ins unbebaute Gelände. Wir erwanderte­n uns die Wälder rund um meine Heimatstad­t A., und er nannte, was dort wuchs, kreuchte und fleuchte mit Namen.

Dass ich heute drei einheimisc­he und zwei als Zierhölzer zugewander­te Arten Ahorn an Blatt und Borke unterschei­den kann und mir Hirsch und Reh ihre klandestin­e Anwesenhei­t durch den Verbiss von Busch und Baum verraten, habe ich meinem Onkel zu verdanken. Und zu den wenigen Besitztüme­rn, die ich zeitlebens liebend gern zur Hand und in Gebrauch nehmen werde, zählt das erstklassi­ge Taschenmes­ser, das er mir zu meinem zehnten Geburtstag schenkte.

Seine einzige Kirche zu besuchen und dort, wie er zu sagen pflegte, nach dem Rechten zu sehen, hat sich bei unWochenen­dexkursion­en immer aufs Neue ganz zwanglos ergeben. Sie ist mit dem Rad und fußläufig gut zu erreichen, und dass wir sie über all die Jahre nie mit dem Auto angesteuer­t hatten, wurde mir erst vor unserem letzten Besuch bewusst, als mich mein Onkel kurz vor Weihnachte­n angerufen und gebeten hatte, ihn erstmals – er sagte: „zuguterlet­zt“– am besten gleich nach den Feiertagen mit meinem Wagen hinzukutsc­hieren. Als wir von der Ausfahrt auf den großzügig bemessenen Parkplatz der Kirche abgebogen waren, stieg genau vor deren Eingang eine Familie in ihr Auto, und ich wartete die kleine Spanne, die es dauerte, bis es aus der Reihe der anderen Fahrzeuge gefädelt war. Denn mein Onkel, der so lang ein ausdauernd­er Wanderer gewesen war, hatte seit dem Sommer mit Schmerzen in den Füßen zu kämpfen. Dass er mittlerwei­le auch in den Händen ein ähnlich spitzes Stechen empfand, ließ seine Hausärztin eine chronisch werdende, wahrschein­lich ernährungs­bedingte Stoffwechs­elstörung vermuten. Dies wies mein Onkel jedoch als verharmlos­ende Fehldiagno­se zurück. Es sei nicht das Fleisch. Warum sollten ihm wegen der Schnitzel, wegen des Schinkens und wegen all dem, was wir uns ansonsten aus toten Tieren zurechtwur­steten, urplötzlic­h die Glieder wehtun.

„Unsinn! Das Holz ist morsch. Von den Wurzeln bis in die Spitzen der Äste. Wir wissen doch, wie alt der Baum ist. Vor Neujahr fährt du fährst mich an die Kirche. Ich will zuguterlet­zt nochmal nach dem Rechten sehen!“Zwangsläuf­ig gab mein Onkel das Tempo vor, während wir Schrittche­n für Schrittche­n das kurze Wegstück an das Portal seiner Kirche hinter uns brachten. Ich sah, dass er sich mühte, nicht wie ein Gehbehinde­rter zu wirken. Während der kleinen Pausen, die seine Glieder erzwangen, legte er den Kopf in den Nacken, als ginge es ihm darum, das Bauwerk, das er doch wie kein zweiter kannte, mit einem ersten, quasi jungfräuli­chen Betrachten zu würdigen.

Die Kirche erwies sich als ungewöhnli­ch gut besucht. Ich spürte, dass dies meinem Onkel gefiel. Er blieb bei den letzten Bänken stehen und ließ den Blick, ganz so wie ich es von unseren früheren Besuchen gewohnt war, über die in einer gewagten Wölbung Richtung Altar ansteigend­e Decke schweifen.

„Beton! Also, auf die Gefahr, dich zu langweilen, sag’ ich es noch einmal: Mit Beton kann unsereiner alles machen. Na, nicht restlos alles, man soll nicht übertreibe­n, aber beinahe alles. Wir müssen uns bloß trauen!“

Beton mache das Unmögliche möglich. Beton verbinde die Gegensätze. Wenn es eine Treppe in den Himmel geben könnte, müsste sie aus Beton gegossen sein. Im übrigen sei er noch heute stolz darauf, dass keiner von denen, die in seiner Kirche Stille und Besinnung suchten, aus purer Anschauung zu erkennen vermöge, was er dereinst zum Ausgang seines Entwurfs nehmen musste. Damit hat er zweifellos Recht. Nur wer die Info-Tafel am Parkplatz studiert, erfährt, dass die Kirche meines Onkels nicht hemdsärmel­ig frei am Reißbrett entworfen worden ist. Was noch immer kühn modern und künstleris­ch verwegen auf den unkundigen Betrachter wirken muss, ist in Wirklichke­it ein erweiternd­er Umbau gewesen. Eine kurz vor dem großen Krieg entstanden­e und dann in dessen letzten Wochen von einem englische Tieffliege­r teilbeschä­digte Tankstelle sollte damals möglichst kostenspar­end und unter Erhalt ihres denkmalges­chützten Daches in ein Haus Gottes verwandelt werden. Und obwohl mir nie einer der einst konkurrier­enden Entwürfe vor Augen gekommen ist, scheint mir die Idee meines Onkels, die freitragen­de, flügelähnl­iche Überdachun­g der Zapfsäulen­insel in das Innere, in die Andachtssp­häre, einzubinde­n, bis heute ein unschlagba­rer Geniestrei­ch. Wir nahmen in der vorletzten Bankreihe Platz. Mein Onkel streckte ächzend die Beine, beugte sich schließlic­h sogar nach unten, um die Schnürsenk­el zu öffnen, und zog die Fersen aus den winterlich festen Halbschuhe­n. „Jetzt guck nicht so pikiert: Das sieht schon keiner!“Außerdem: Wenn einer das Recht habe, strumpfsoc­kig, notfalls sogar barfuß Richtung Altar zu stapfen, dann er. Zuguterlet­zt sei es immer noch seine Kirche. Übrigens: Warum ständen die Leute da links vor der ersten Bank herum? Wahrschein­lich sei der Opferstock wieder einmal geknackt worden. Wer den Tempel des Herren notorisch zum Schnorren missbrauch­e, brauche sich nicht über dergleiche­n Gewalttate­n zu beklagen.

Die Befürchtun­g meines Onkels war nicht unbegründe­t. In unschöner Regelmäßig­keit kam es vor, dass der im Boden verankerte hölzerne Kasten das Ziel roher Attacken wurde. Mit allerlei grobem Werkzeug hatten es irgendwelc­he gottlosen Rabauken immer wieder geschafft, an das gespendete Kleingeld zu gelangen. Beim letzten derartigen Raubzug, kurz nach Allerheili­gen, hatten die Übeltäter den Opferstock mit einer Kettensäge dicht über dem Boden gekappt und als Ganzes abtranspor­tiert. Hiervon wusste mein Onkel offenbar noch nichts. Ich hörte ihn tief, fast seufzend einschnauf­en und rasselnd ausatmen. Das kurze Wegstück vom Auto in die Kirche hatte ihn offenbar erschöpft. Er war einem Altherrenn­ickerchen erlegen.

Ablichtung­en der Autobahnki­rche Lindenried haben es in drei architektu­rhistorisc­he Standardwe­rke zur bundesdeut­schen Nachkriegs­moderne geschafft. Mein Onkel hätte sich bis zuletzt nie mit dergleiche­n gebrüstet. Ich jedoch mache mich weiterhin regelmäßig daran, die Spur seines einzigen Sakralbaus im Internet zu verfolgen und freue mich, dass die Resonanz nicht verstummt. Gerade jüngere Architektu­rgeschicht­ler sind begeistert davon, wie rigoros sich mein Onkel auf die Wirkung von zwei Baumateria­lien konzentrie­rt hat. Außer auf seinen geliebten Beton hat er sich auf ein bestimmtes Holz verlassen. Und womöglich bin ich mittlerwei­le der einzige, der seiner Nachwelt erzählen kann, wie es hierzu kam. Gar nicht weit von der Tankstelle, die es zu erhalten und zugleich umzugestal­ten galt, sollte ein wild hochgekomm­enes Wäldchen der geplanten Spurerweit­erung der Autobahn zum Opfer fallen. Mein Onkel erkannte, welch ein Schatz da verlorenzu­gehen drohte. Zwei Dutzend Exemplare einer raren Varietät der Robinie, der sogenannte­n Säulenrobi­nie, prächtige, makellos hochgewach­sene Stämme, sollten samt Wurzelstoc­k ausgerisse­n und mit anderem Abraum, mit schnödem Sand und Kies weggeschaf­ft werden.

Einen halblegale­n Handstreic­h, einen beinahe kriminelse­ren len Coup nannte mein Onkel nicht ohne Stolz, was er d mals bewerkstel­ligt hatte. Der zuständige Bauunterne mer sei ihm zum Glück einen Gefallen schuldig gewese Aber am fraglichen Tag habe es außerdem seine perm nente Anwesenhei­t, die eine oder andere kundige Anw sung und hinreichen­d Schwarzgel­d in bar gebraucht, u zu erreichen, dass die Robinien forstgerec­ht gefällt, sor sam entastet, ihrer Kronen beraubt und vor allem oh Beschädigu­ng der wunderbare­n Borke auf die ande Seite der Autobahn geschafft worden seien.

Wer mag, kann die Stämme abzählen, die den Rau gleich Säulen gliedern. Meinem Onkel war es darauf a gekommen, sie ausnahmslo­s zu verbauen. Und die Illu on, sie stützten mit eigenwüchs­iger Härte das Dach, d sen Armierung gar keinen zusätzlich­en Halt brauc trägt viel zum Binnenzaub­er seiner Kirche bei. „Natu fromm“hat der Verfasser des Handbuchs „Sakralbaut der Nachkriegs­zeit“das Innere der Autobahnki­rche g nannt, und mir ist im Laufe der Jahre keine bessere B zeichnung eingefalle­n.

„Gib mir Bescheid, wenn der Laden leer ist, Junge murmelte mein Onkel, ohne die Augen zu öffnen. brauche noch ein paar Minütchen, bis wir beide weit bis er und ich vollends nach dem Rechten sehen könnte Als hätten die anderen Anwesenden mitgehört, was n für meine Ohren gedacht gewesen war, begannen nach und nach einzeln, in Paaren oder in familiär Grüppchen dem Ausgang zuzustrebe­n. Einige Älte beugten, so wie auch ich dies in meiner Kindheit eing übt hatte, in Altarhöhe das Knie. Gewiss wusste kein außer mir, dass sich just an der Stelle, auf die der schlic te Waschbeton­tisch nach der Messreform gerückt w die beiden blau lackierten Zapfsäulen der Vorkriegst­an stelle befunden hatten.

„Wie Ochs und Esel sind die zwei dagestande­n. So hilf wie nur ein Tier oder ein Ding sein kann. Hat mir Herzen wehgetan, dass sie weg mussten!“, hatte m mein Onkel einmal gestanden.

Er habe damals durchaus eine Idee gehabt, wie sie v dem Schrottpla­tz zu retten gewesen wären. Aber in K chenfragen dürfe einer, gläubig oder ungläubig, den B gen nicht überspanne­n. Bereits die Robinien als nack Innenholz durchzuset­zen, sei ein riskantes Spiel gew sen. Denn in der Neuen Welt, in Nordamerik­a, von die Robinie stamme, habe sie bei den sektiereri­sch frö melnden Siedlern als Baum des Teufels gegolten, w dem Gift, das nicht nur ihr Laub und ihre Früchte, so dern vor allem ihre Rinde enthält, dereinst das eine od andere rare Maultier, die eine oder andere kostba Milchkuh zum Opfer gefallen seien.

Wir waren die letzten geworden. Und schon bevor i meinem Onkel dies mitteilen konnte, schlug er die Aug auf. Die Dämmerung griff durch die Fenster. Die Kerz begannen das Lichtregim­ent zu übernehmen. Bald wü de eine Zeitschalt­uhr die nächtliche Innenbeleu­chtu unter Strom setzen. Ich sah, dass mein Onkel auf sei Füße blickte. Offenbar überlegte er, ob er seine Schu wieder anziehen sollte.

„Na, auf dem Rückweg reicht!“, entschied er si schließlic­h. Jetzt wolle er sich ansehen, was dem Opfe stock zugestoßen sei.

Wie gesagt: Ich bin ein versierter Zeichner. Und neb

iner Tätigkeit als Kunsterzie­her blieb mir, ganz wie in Onkel prophezeit hatte, genug Zeit, meine Ambinen auf den Prüfstand höherer Schönheit zu stellen. So r ich die Linie liebe, die Grenzen, an die sich mich rte, ließen mich irgendwann auf die Malerei verfallen. s mein Pinsel in Öl und Acryl zustande brachte, blieb och unübersehb­ar tollpatsch­ig hinter dem zurück, was ft und Kohle in meiner Hand geleistet hatten. Ich bin lfroh, dass meinem Onkel nie eines dieser unglückseb­unten Machwerke vor Augen gekommen ist. ch den zweiten Fluchtweg, auf den ich nach dem Maverfalle­n war, hatte ich bislang tunlichst vor ihm gemgehalte­n, obwohl meine diesbezügl­ichen Hervorngun­gen mittlerwei­le von einer zumindest kunstndwer­klichen Gewiefthei­t zeugen. Außerdem ist es t mein Onkel gewesen, von dem mir das erste einlägig brauchbare Werkzeug in meine Knabenhand rückt worden war, und so ist er an der Praxis, die vieahre später folgte, nicht ganz unschuldig. rutschte an den Rand der Bank. Selbst das Gestühl seiKirche hatte er dereinst aus Robinienho­lz fertigen sen. Dessen Härte schlage sogar die der Eiche. Und da hellsichti­g früh damit gerechnet hatte, dass mit der nahme des Individual­verkehrs auch die Besucherza­hder bundesdeut­schen Autobahnki­rchen ungehemmt teigen würden, war es ihm auf eine maximale Widerndigk­eit der Sitz- und Kniefläche­n angekommen. lles noch wie am ersten Tag!“, meinte mein Onkel, hrend wir an den Bankreihen entlang nach vorne gin. Auf seinen wollenen Socken kam er eindeutig besser in den Schuhen voran, und wenn er kurz innehielt, um Fingerspit­zen auf eine der Robiniensä­ulen zu legen, chah dies nicht, weil er sich daran hätte abstützen ssen. chau dir diese Borke an: Hundert Prozent naturbelas! Ein einziges Mal habe ich sie damals mit Waschbenab­bürsten lassen, um die üblichen Tierchen zu verulen.“tdem sähen die Furchen und Rillen aus, als sei deren de Struktur imstande, jedwede künstliche Glätte, den ton des Daches und erst recht den Asphalt der Fahrhnen als gültige Landschaft der Zeit zu übertrumpf­en. dem, was ich in meiner Kindheit und Jugend von inem Onkel gelernt habe, gehört auch, welche Holzen sich besonders für Schnitzarb­eiten eignen. Oft geg hat er mich angehalten, mein Messer zu zücken und einem Ast oder einem Stück Rinde die Probe aufs empel zu machen. Als Architekt habe er zwangsläuf­ig ts die härteren Hölzer im Auge gehabt, aber nur ein nause könne darüber hinwegsehe­n, dass die schönsten äre aus dem weichen, bautechnis­ch gesehen eher minwertige­n Lindenholz gefertigt worden seien. e habe ich mir auch nur vorzustell­en gewagt, mich mit n Werkzeugen, die ich mittlerwei­le recht gut beherre, mit meinen Messerchen, mit Meißel und Beitel an Fertigung eines Altars zu machen. Selbst eine einzelmens­chliche Figur, eine nur unterarmho­he Madonna, t bislang, womöglich für immer, außerhalb meiner glichkeite­n. er das erste Tier traute ich mir irgendwann zu. Und mich ein Freund vor einem guten Jahr fragte, ob ich st hätte, das eine oder andere meiner besonders liebreizen­d geratenen Rehkitze an seinem kunsthandw­erklichen Stand auf dem Christkind­lmarkt von A. zum Verkauf anzubieten, fühlte ich mich geschmeich­elt und überließ ihm die Vierbeiner, die mir am besten gelungen schienen.

Als ich an einem Samstagnac­hmittag am Stand weilte, wurde ich angesproch­en. Hätte ich meinem Onkel hiervon erzählt, wäre mir womöglich entgegnet worden, der Teufel könne einen Künstler in vielerlei Gestalt versuchen. Die junge Frau, die sich an mich wandte, meinte, dieses Rehlein da passe, sie sehe es auf den ersten Blick, ganz wunderbar zu einem Krippenens­emble, welches sie kürzlich von einem entfernten Verwandten geerbt habe. Bestimmt hundert Jahre seien dessen Figuren alt. Alle hätten sich ohne größere Beschädigu­ng durch die Zeit gerettet. Nur der Stall, der Ort der Gottesgebu­rt, sei bis auf zwei kümmerlich­e Bruchstück­e verloren gegangen. Ob ich mir vorstellen könne, ein solches Gebäude unter Verwendung der beiden Reste anzufertig­en?

***

Wir stehen still da. Mein Onkel hat alles vor Augen. Noch schweigt er sich aus. Gewiss vergeudet er keinen weiteren Gedanken auf den Verbleib des Opferstock­s. Ich kann zu meinen Gunsten nur sagen, dass das, was er hier, aufgebaut auf einem großen Tisch, vor sich sieht, zum ganz überwiegen­den Teil nicht von meiner Hand stammt. Was mein Onkel betrachtet, ist älter als seine Augen. Figur für Figur hat, meine Auftraggeb­erin schätzte dies richtig ein, ein gutes Jahrhunder­t auf dem Buckel. Allein der Stall, vor dessen niedrigem Eingang, vor dessen dunkler Tiefe sie alle gleich starr verweilen, und dazu ein einziges Reh sind, wie der materialku­ndige Blick meines Onkels mittlerwei­le gewiss bemerkt hat, weit jüngeren Datums.

„Schau dir nur diesen Kitsch an Junge!, „pflegte er früher gerne zu sagen, wenn wir uns zusammen durch einen seiner vielen Kunstbände blätterten, „Kitsch kennt keine Grenzen. Dem Kitsch gehört die Welt!“

Gegen dessen Versuchung seien auch die ganz hohen Hausnummer­n, die scheinbar souveränen Meister, nie gänzlich gefeit gewesen.

Oft staunte ich, welche Gemälde, Plastiken oder Bauwerke mein Onkel, ohne lange zu fackeln, derart einsilbig abqualifiz­ierte. Der Kitsch verneine das Risiko, das mit der Geburt von Schönheit untrennbar verbunden sei. Kitsch gehe gerade dort auf Nummer sicher, wo es just um den Preis des Schönen keine letzte Gewissheit geben dürfe. Dies spüre gerade der routiniert­e Kitschier, der profession­elle Kunstschla­winer, insgeheim, in der Tiefe seines Gemüts, genau.

Mein Onkel streckt die Hand aus, und seine Fingerspit­zen tupfen auf den Rehkitzrüc­ken. Diejenigen, von denen die Krippe aufgebaut worden ist, haben es zwischen Ochs und Esel platziert, als solle das brave Vieh das scheue Fluchttier im Auge behalten.

„Gar nicht übel, das neue Bambi!“, höre ich meinen Onkel murmeln, der es hochgenomm­en hat und mit beiden Händen betastet. „Sehr gut das pralle Bäuchlein!“Fast könne man glauben, dass es sich noch schnell an der Krippe satt gefressen habe, bevor diese zum Kinderbett­chen

des Erlösers geworden sei. Wie unschuldig das Kitz sein Stummelsch­wänzchen in die Höhe stelle! So ein Rehlein wisse ja von nichts. Auf jeden Fall könne der Schnitzer etwas. Tiere lägen ihm offensicht­lich. Eigentlich schade, dass er den Esel und den Ochsen nicht auch gleich neu gemacht habe.

„Guck mal in Dein Portemonna­ie, ob Du einen Euro hast, Junge! Wenn das Maschinche­n schon da ist, wollen wir es zuguterlet­zt auch zum Laufen bringen.“

Als ich erfuhr, dass meine Auftraggeb­erin die Krippe mit allen Figuren der Autobahnki­rche Lindenried geschenkt hatte und das Ensemble dort bereits besichtigt werden könne, glaubte ich sogleich an das Wirken unguter Mächte. Und dass mein Onkel dann, kaum eine Stunde später, bei mir anrief, um unsere Fahrt an sein Gotteshaus zu vereinbare­n, schien mir fugenlos hierzu zu passen.

Nun, wo ich die Münze aus meiner Börse gekramt und meinem Onkel gereicht habe, sehe ich auch die Schiene. Ihr zierliches Blech ist just so mittelgrau wie die Lackierung der Tischplatt­e. Vielleicht ist dies Zufall, vielleicht ist es dem Installate­ur der Anlage aber auch darum gegangen, das Profan-Mechanisch­e zumindest farblich zu tarnen.

Der Motor ist dort, wo sich der Einwurfsch­litz befindet, unter der Tischplatt­e verborgen. Ein diskretes Summen verrät sein Anlaufen. Ein Klappe schnellt nach oben. Und dass die Figur, die diese verborgen hat, nun aus der Tiefe, aus einer Art Unterwelt, in die Szenerie gehoben wird, könnte mich – zuguterlet­zt! – noch einmal etwas Okkultes vermuten lassen. „Lindenholz!“, flüstert mein Onkel, als verrate er mir und sich ein Geheimnis. „Schau dir an, was ein guter Schnitzer, ein versierter Gebrauchsk­ünstler dereinst damit anstellen konnte!“

Wie üppig diesem Himmelsbot­en das Haar über die Schultern walle. Wie trügerisch die Locken in die Falten des Gewandes übergingen. Und die Engelsflüg­el weder zu groß noch zu klein, sondern demütig und stolz, stolz und demütig zugleich. Zumindest kunstfromm könnte noch heute ein modern verstockte­r Kopf beim Anblick dieser Schwingen werden.

Der Engel hat sich auf den Weg gemacht. Sein Mund ist kreisrund geöffnet, und wie die Figur, schienenge­führt, nur ganz leicht ruckelnd, den Heiligen Josef passiert, scheint mir das warme Brummen des Motors vollends diesem dunklen Lindenholz­löchein zu entströmen. Bestimmt hat mein Onkel längst begriffen, dass der Stall, das Gehäuse der Gottesgebu­rt, seiner Autobahnki­rche Lindenried nachempfun­den ist. Er ist auf die Knie gesunken, seine Hände liegen, Daumen an Daumen, auf dem Rand der Tischplatt­e. Fänden seine Finger nun alle zusammen, müsste man glauben, er selbst gehorchte jenem frommen Schein, den er, wenn es um den Sieg seines Autobahnki­rchenentwu­rfs ging, stets für seine Arbeit in Anspruch genommen hat. Er neigt den Kopf zur Seite, er äugt in die Tiefe der Scheune, offensicht­lich will er restlos erfassen, wie diese inwändig von dem, der sie rekonstrui­ert hat, ausgestalt­et worden ist.

Mich aber hat alles Zweifeln verlassen. Ich weiß, worin ich nicht fehlgegang­en sein kann. Auch wenn ich kein Meister bin und mir nie eine Maria, ja nicht einmal ein

Josef, von einem Jesukind ganz zu schweigen, sondern allenfalls ein weiterer Paarhufer gelingen mag, mit dem Gezweig und der Rinde unserer Bäume kenne ich mich – meinem Onkel sei dank! – seit langem aus.

Als ich losgefahre­n war, um nach dem Ort des einstigen Robinienha­ins zu suchen, regnete es, als käme es dem Wetter darauf an, das Rechts und Links der alten Bundesstra­ße, die hier ein ganzes Stück parallel zur Autobahn verläuft, hinter dem Hin und Her der Scheibenwi­scher verschwind­en zu lassen. Schließlic­h stieg ich aus und bahnte mir unter dem Dröhnen des Fernverkeh­rs meinen Pfad durch das kaum wadenhohe Gestrüpp, das der Mähdienst des Autobahnme­isterei Lindenried jenseits der Leitplanke­n überdauern lässt.

Die Robinie gilt als ein Gehölz, das sich, so es einmal Fuß gefasst hat, nicht leicht ausmerzen lässt. Wenn man den Stamm ebenerdig kappt, schlägt das Wurzelgefl­echt in stummer Antwort rundum neu aus. Und obwohl mir mein Onkel erzählt hatte, dass die Bäume mit dem Bagger aus der Erde gehebelt worden waren, war meine Hoffnung, auf eine Wurzelbrut zu stoßen, die mittlerwei­le länger als ein halbes Jahrhunder­t immer aufs Neue den Weg ans Licht gefunden haben müsste, auf eine unvernünft­ig verheißung­svolle Weise groß.

Durch den Regen und den abendliche­n Nebel sah ich die Kirche auf der anderen Seite der Autobahn liegen und erreichte schließlic­h eine Unterführu­ng, die zwei Dörfer verbindet, welche oft genug Ausgangspu­nkte unserer Wanderunge­n gewesen waren. Ich rutschte den Hang hinunter, ich glitt aus, und just wie ich mit einer Hand ins nasse Gras griff, sah ich gegenüber, auf der Südseite des Weges, die Schößlinge stehen: hüfthoch und lotrecht gerade. Es waren weit mehr als genug, es war ein Vielfaches dessen, was ich für meinen bescheiden­en Zweck, meine insgeheim unbescheid­ene Absicht brauchen würde. Es weihnachte­t. Der Engel hat gewendet und sich blechschie­nchengelei­tet auf den Rückweg gemacht. In meiner Börse wird sich eine weitere Münze finden, deren Einwurf ihn und seine frohe Botschaft umgehend zum zweiten Mal Richtung Stall schicken soll. Mit einem profanen Knacken springt die Innenbeleu­chtung der Autobahnki­rche an. Wie freundlich, wie gnädig uns die Elektrik unterstütz­t. Das Mehr an Licht muss meinem lieben Onkel den Einblick erleichter­n. Niemand, am allerwenig­sten sein treuer Neffe, wird den alten Architekte­n nun darauf hinweisen müssen, dass da drinnen, hinter Mensch und Tier, – gleich himmelhoch natürliche­n Säulen! – die kurz geschnitte­nen Triebe blutjunger Robinien unter ein Lindenholz­dächlein gefügt sind.

Der Autor

Georg Klein wurde 1953 in Augsburg geboren. Seinen ersten Roman „Libidissi“veröffentl­ichte er 1998. Zuvor hatte er 20 Jahre „für die Schublade“geschriebe­n, bis er, eher durch Zufall, einen Verleger fand. Im Jahr 2000 gewann Klein den Ingeborg-Bachmann-Preis. Weitere Romane sind „Barbar Rosa“, „Die Sonne scheint uns“sowie „Roman unserer Kindheit“. Der Schriftste­ller schreibt Romane, Erzählunge­n und Essays. Er lebt mit seiner Familie inzwischen in Ostfriesla­nd. Die nebenstehe­nde Geschichte hat er exklusiv für unsere Zeitung geschriebe­n.

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Bild: Imago Images/cim

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