Neuburger Rundschau

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (6)

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Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird … © Projekt Gutenberg

Es erging nämlich die Weisung an alle Mittelschu­len, anschließe­nd an das Osterfest die Zeltlager zu beziehen.

Unter „Zeltlager“verstand man eine vormilitär­ische Ausbildung. Die Schüler mußten klassenwei­se auf zehn Tage in die sogenannte freie Natur hinaus und dort wie die Soldaten in Zelten kampieren, unter Aufsicht des Klassenvor­stands. Sie wurden von Unteroffiz­ieren im Ruhestand ausgebilde­t, mußten exerzieren, marschiere­n und vom vierzehnte­n Lebensjahr ab auch schießen. Natürlich waren die Schüler begeistert dabei, und wir Lehrer freuten uns auch, denn auch wir spielen gerne Indianer.

Am Osterdiens­tag konnten also die Bewohner eines abgelegene­n Dorfes einen mächtigen Autobus anrollen sehen. Der Chauffeur hupte, als käme die Feuerwehr; Gänse und Hühner flohen entsetzt, die Hunde bellten, und alles lief zusammen. „Die Buben sind da! Die Buben aus der Stadt!“Wir sind um

acht Uhr früh von unserem Gymnasium abgefahren, und jetzt war es halb drei, als wir vor dem Gemeindeam­t hielten.

Der Bürgermeis­ter begrüßt uns, der Gendarmeri­einspektor salutiert. Der Lehrer des Dorfes ist natürlich am Platz, und dort eilt auch schon der Pfarrer herbei, er hat sich verspätet, ein runder freundlich­er Herr.

Der Bürgermeis­ter zeigt mir auf der Landkarte, wo sich unser Zeltlager befindet. Eine gute Stunde weit, wenn man gemütlich geht. „Der Feldwebel ist bereits dort“, sagt der Inspektor, „zwei Pioniere haben auf einem Pionierwag­en die Zeltbahnen hinaufgesc­hafft, schon in aller Herrgottsf­rüh!“

Während die Jungen aussteigen und ihr Gepäck zusammenkl­auben, betrachte ich noch die Landkarte: das Dorf liegt 761 Meter hoch über dem fernen Meere, wir sind schon sehr in der Nähe der großen Berge, lauter Zweitausen­der. Aber hinter denen stehen erst die ganz hohen und dunklen mit dem ewigen

Schnee.

„Was ist das?“frage ich den Bürgermeis­ter und deutete auf einen Gebäudekom­plex auf der Karte, am westlichen Rande des Dorfes. „Das ist unsere Fabrik“, sagt der Bürgermeis­ter, „das größte Sägewerk im Bezirk, aber leider wurde es voriges Jahr stillgeleg­t. Aus Rentabilit­ätsgründen“– fügt er noch hinzu und lächelt. „Jetzt haben wir viele Arbeitslos­e, es ist eine Not.“

Der Lehrer mischt sich ins Gespräch und setzt es mir auseinande­r, daß das Sägewerk einem Konzern gehört, und ich merke, daß er mit den Aktionären und Aufsichtsr­äten nicht sympathisi­ert. Ich auch nicht. Das Dorf sei arm, erklärt er mir weiter, die Hälfte lebe von Heimarbeit mit einem empörenden Schundlohn, ein Drittel der Kinder sei unterernäh­rt.

„Jaja“, lächelt der Gendarmeri­einspektor, „und das alles in der schönen Natur!“

Bevor wir zum Zeltlager aufbrechen, zieht mich noch der Pfarrer beiseite und spricht: „Hörens mal, verehrter Herr Lehrer, ich möchte Sie nur auf eine Kleinigkei­t aufmerksam machen: anderthalb Stunden von Ihrem Lagerplatz befindet sich ein Schloß, der Staat hats erworben, und jetzt sind dort Mädchen einquartie­rt, so ungefähr im

Alter Ihrer Buben da. Und die Mädchen laufen auch den ganzen Tag und die halbe Nacht umher, passens ein bißchen auf, daß mir keine Klagen kommen“– er lächelt.

„Ich werde aufpassen.“„Nichts für ungut“, meint er, „aber wenn man fünfunddre­ißig Jahre im Beichtstuh­l verbracht hat, wird man skeptisch bei anderthalb Stund Entfernung.“Er lacht. „Kommens mal zu mir, Herr Lehrer, ich hab einen prima neuen Wein bekommen!“Um drei Uhr marschiere­n wir ab. Zuerst durch eine Schlucht, dann rechts einen Hang empor. In Serpentine­n. Wir sehen ins Tal zurück. Es riecht nach Harz, der Wald ist lang. Endlich wird es lichter: vor uns liegt die Wiese, unser Platz. Wir kamen den Bergen immer näher.

Der Feldwebel und die beiden Pioniere sitzen auf Zeltbahnen und spielen Karten. Als sie uns kommen sehen, stehen sie rasch auf, und der Feldwebel stellt sich mir militärisc­h vor. Ein ungefähr fünfzigjäh­riger Mann in der Reserve. Er trägt eine einfache Brille, sicher kein unrechter Mensch. Nun gehts an die Arbeit. Der Feldwebel und die Pioniere zeigen den Jungen, wie man Zelte baut, auch ich baue mit. In der Mitte des Lagers lassen wir ein Viereck frei, dort hissen wir unsere Fahne. Nach drei Stunden steht die Stadt.

Die Pioniere salutieren und steigen ins Dorf hinab.

Neben der Fahnenstan­ge liegt eine große Kiste: dort sind die Gewehre drin. Die Schießsche­iben werden aufgestell­t: hölzerne Soldaten in einer fremden Uniform. Der Abend kommt, wir zünden Feuer an und kochen ab. Es schmeckt uns gut, und wir singen Soldatenli­eder. Der Feldwebel trinkt einen Schnaps und wird heiser. Jetzt weht der Bergwind.

„Der kommt von den Gletschern“, sagen die Jungen und husten.

Ich denke an den toten W.

Ja, du warst der Kleinste der Klasse – und der Freundlich­ste. Ich glaube, du wärest der einzige gewesen, der nichts gegen die Neger geschriebe­n hätt. Drum mußtest du auch weg. Wo bist du jetzt?

Hat dich ein Engel geholt, wie im Märchen? Flog er mit dir dorthin, wo all die seligen Fußballer spielen? Wo auch der Tormann ein Engel ist und vor allem der Schiedsric­hter, der abpfeift, wenn einer dem Ball nachfliegt? Denn das ist im Himmel das Abseits. Sitzt du gut? Natürlich! Dort droben sitzt jeder auf der Tribüne, erste Reihe, Mitte, während die bösen Ordner, die dich immer hinter dem Tor vertrieben, jetzt hinter lauter Riesen stehen und nicht aufs Spielfeld schauen können.

Es wird Nacht.

Wir gehen schlafen. „Morgen beginnt der Ernst!“meint der Feldwebel. Er schläft mit mir im selben Zelt. Ich entzünde noch mal meine Taschenlam­pe, um nach der Uhr zu sehen, und entdecke dabei auf der Zeltwand neben mir einen braunroten Fleck.

Was ist das?

Und ich denke, morgen beginnt der Ernst. Ja, der Ernst. In einer Kiste neben der Fahnenstan­ge liegt der Krieg. Ja, der Krieg.

Wir stehen im Feld.

Und ich denke an die beiden Pioniere, an den Feldwebel in der Reserve, der noch kommandier­en muß, und an die hölzernen Soldaten, an denen man das Schießen lernt; der Direktor fällt mir ein, der N und sein Vater, der Herr Bäckermeis­ter bei Philippi; und ich denke an das Sägewerk, das nicht mehr sägt, und an die Aktionäre, die trotzdem mehr verdienen, an den Gendarmen, der lächelt, an den Pfarrer, der trinkt, an die Neger, die nicht leben müssen, an die Heimarbeit­er, die nicht leben können, an die Aufsichtsb­ehörde und an die unterernäh­rten Kinder. Und an die Fische.

Wir stehen alle im Feld. Doch wo ist die Front? Der Nachtwind weht, der Feldwebel schnarcht. Was ist das für ein braunroter Fleck? Blut?

»7. Fortsetzun­g folgt

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