Neuburger Rundschau

Die Geburtsstu­nde des Herminator­s

Hermann Maier geht als Favorit in die olympische Abfahrt 1998. Es folgt ein verheerend­er Sturz – und ein Wunder der Sportgesch­ichte (Serie, Teil 8)

- VON LARS MÜLLER-APPENZELLE­R Dienstag Polen – Schweden Schweiz – Slowenien

Olympische Spiele sind für Journalist­en keine Lustreise. Schon gar nicht für Fotografen. Erst recht nicht, wenn sie Bilder bei den Skirennen machen wollen. Stunden vor dem Start müssen sie ihre Position eingenomme­n haben – also mitunter noch in der Dunkelheit. Ärgerlich, wenn es Verschiebu­ngen gibt. Immer wieder. Über Tage. Wie bei der Olympia-Abfahrt der Männer 1998 in Nagano, wo Carl Yarbrough Hermann Maier weltweit berühmt gemacht hat – und Hermann Maier Carl Yarbrough. Der US-amerikanis­che Fotograf hat einmal gesagt: „Die Abfahrt zu fotografie­ren, ist das Schwierigs­te überhaupt. Für das wirklich gute Bild hast du nur eine einzige Chance. Du musst sie ergreifen, sonst ist es zu spät.“

Carl Yarbrough hat jedenfalls an diesem Freitag, den 13. Februar 1998, nach den heftigen Schneefäll­en und mehreren Verschiebu­ngen einen Plan. Der geübte Skifahrer sagt später in einem der vielen Interviews: „Für die optimale Position habe ich eine Sperrholzp­latte im Sessellift raufgeschl­eppt und eine Leiter. Auf der lauerte ich mit meiner Kamera.“Ziemlich weit oben an der Strecke, hinter einem Sprung nach knapp 20 Fahrsekund­en.

Wenn er das Geräusch der sich nähernden Läufer vor der Rechtskurv­e am Sprung hört, drückt Yarbrough

mit seiner analogen Kamera eine Sekunde später ab. Der Mann aus Boulder in Colorado ist enttäuscht, die Bilder der ersten drei Fahrer sind unspektaku­lär. Dann kommt Startnumme­r vier – die er nicht hört, aber plötzlich sieht.

Hermann Maier sei auf ihn zugeschoss­en. „Ich wusste“, so Carl Yarbrough, „von der Leiter komme ich nicht mehr runter. Entweder, er erschlägt mich, oder ich habe ein super Foto.“Mit einem Skifahrer, der quer in der Luft liegt, die Ski wild im blauen Himmel. Carl Yarbrough bleibt standhaft. Das Bild schafft es auf die Titelseite von Sports Illustrate­d und später auch in die Jahrhunder­tfotos-Ausgabe der berühmtest­en Sportzeits­chrift der Welt.

Doch die Welt hält erst einmal den Atem an. Hermann Maier liegt nach mehreren Überschläg­en im Schnee, ist am zweiten Fangzaun über etwas Dunkles geflogen: Die Jacke von Carl Yarbrough, den man in den TV-Bildern von seiner Leiter springen sieht. Er ist der Erste beim Österreich­er. „Ich war einmal Gerüstbaue­r und habe schlimme Unfälle gesehen. Ich dachte: Das kann er nicht überlebt haben. Aber er bewegte sich.“Der Schnee sei hüfthoch gewesen. Als der Fotograf bei Maier war, habe er gefragt: „Bist du okay? Er nickte und stammelte wirres Zeug. Also bin ich wieder zurück. Denn ich war ja dort, um beim Rennen zu fotografie­ren.“

Yarbrough hat als einziger Fotograf die Geburtssek­unde des Herminator­s festgehalt­en. Die Welt sieht drei Tage nach dem Sturz eines der größten Wunder der Sportgesch­ichte: Der 25-jährige Maier gewinnt im Super-G sein erstes olympische­s Gold, weitere drei Tage später kommt Gold im Riesenslal­om dazu. Das Foto zum Wunder verkauft sich noch immer. „Wenn ich darüber nachdenke, hat mich Hermann Maier zum Millionär gemacht“, zitiert Laola1.at den Fotografen.

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Die Serie „Ein Bild und seine Geschichte“beschreibt herausrage­nde und unvergesse­ne Momente der Weltgeschi­chte des Sports, die wir in unregelmäß­igen Abständen veröffentl­ichen.

GRUPPE F IN GÖTEBORG

 ?? Foto: Carl Yarbrough, Getty Images ?? Völlig losgelöst von der Erde: Hermann Maier hat die Kontrolle über Zeit, Raum und Koordinati­on verloren, bleibt aber beinahe unverletzt.
Foto: Carl Yarbrough, Getty Images Völlig losgelöst von der Erde: Hermann Maier hat die Kontrolle über Zeit, Raum und Koordinati­on verloren, bleibt aber beinahe unverletzt.

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