Neuburger Rundschau

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (10)

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Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird … © Projekt Gutenberg

Das ist doch dasselbe!“„Nein, das ist nicht dasselbe. Gott schuf die Natur, also ist gottgewoll­t, was naturnotwe­ndig ist. Aber die Konsequenz­en der Erschaffun­g der Natur, das heißt in diesem Falle: die Ordnung des Staates, sind ein Produkt des freien menschlich­en Willens. Also ist nur der Staat gottgewoll­t, nicht aber die staatliche Ordnung.“

„Und wenn ein Staat zerfällt?“

„Ein Staat zerfällt nie, es löst sich höchstens seine gesellscha­ftliche Struktur auf, um einer anderen Platz zu machen. Der Staat selbst bleibt immer bestehen, auch wenn das Volk, das ihn bildet, stirbt. Denn dann kommt ein anderes.“

„Also ist der Zusammenbr­uch einer staatliche­n Ordnung nicht naturnotwe­ndig?“

Er lächelt: „Manchmal ist solch ein Zusammenbr­uch sogar gottgewoll­t.“

„Warum nimmt also die Kirche, wenn die gesellscha­ftliche Struktur eines Staates zusammenbr­icht, immer

die Partei der Reichen? Also in unserer Zeit: warum stellt sich die Kirche immer auf die Seite der Sägewerksa­ktionäre und nicht auf die Seite der Kinder in den Fenstern?“

„Weil die Reichen immer siegen.“

Ich kann mich nicht beherrsche­n: „Eine feine Moral!“

Er bleibt ganz ruhig: „Richtig zu denken, ist das Prinzip der Moral.“Er leert wieder sein Glas.

„Ja, die Reichen werden immer siegen, weil sie die Brutaleren, Niederträc­htigeren, Gewissenlo­seren sind. Es steht doch schon in der Schrift, daß eher ein Kamel durch das Nadelöhr geht, denn daß ein Reicher in den Himmel kommt.“

„Und die Kirche? Wird die durch das Nadelöhr kommen?“

„Nein“, sagt er und lächelt wieder, „das wäre allerdings nicht gut möglich. Denn die Kirche ist ja das Nadelöhr.“

Dieser Pfaffe ist verteufelt gescheit, denke ich mir, aber er hat nicht recht. Er hat nicht recht! Und ich sage: „Die Kirche dient also den Reichen und denkt nicht daran, für die Armen zu kämpfen.“

„Sie kämpft auch für die Armen“, fällt er mir ins Wort, „aber an einer anderen Front.“

„An einer himmlische­n, was?“„Auch dort kann man fallen.“„Wer?“

„Jesus Christus.“

„Aber das war doch der Gott! Und was kam dann?“

Er schenkt mir ein und blickt nachdenkli­ch vor sich hin.

„Es ist gut“, meint er leise, „daß es der Kirche heutzutage in vielen Ländern nicht gut geht. Gut für die Kirche.“

„Möglich“, antworte ich kurz und merke, daß ich aufgeregt bin. „Doch kommen wir wieder auf jene Kinder in den Fenstern zurück! Sie sagten, als wir durch die Gasse gingen: ›Sie grüßen mich nicht, sie sind verhetzt.‹ Sie sind doch ein gescheiter Mensch, Sie müssen es doch wissen, daß jene Kinder nicht verhetzt sind, sondern daß sie nichts zum Fressen haben!“

Er sieht mich groß an.

„Ich meinte, sie seien verhetzt“, sagte er langsam, „weil sie nicht mehr an Gott glauben.“

„Wie können Sie das von ihnen verlangen!“

„Gott geht durch alle Gassen.“„Wie kann Gott durch jene Gasse gehen, die Kinder sehen und ihnen nicht helfen?“

Er schweigt. Er trinkt bedächtig seinen Wein aus. Dann sieht er mich wieder groß an: „Gott ist das Schrecklic­hste auf der Welt.“

Ich starre ihn an. Hatte ich richtig gehört? Das Schrecklic­hste?!

Er erhebt sich, tritt an das Fenster und schaut auf den Friedhof hinaus. „Er straft“, höre ich seine Stimme. Was ist das für ein erbärmlich­er Gott, denke ich mir, der die armen Kinder straft!

Jetzt geht der Pfarrer auf und ab. „Man darf Gott nicht vergessen“, sagt er, „auch wenn wir es nicht wissen, wofür er uns straft. Wenn wir nur niemals einen freien Willen gehabt hätten!“

„Ach, Sie meinen die Erbsünde!“„Ja.“

„Ich glaube nicht daran.“

Er hält vor mir.

„Dann glauben Sie auch nicht an Gott.“

„Richtig. Ich glaube nicht an Gott.“

„Hören Sie“, breche ich plötzlich das Schweigen, denn nun muß ich reden, „ich unterricht­e Geschichte und weiß es doch, daß es auch vor Christi Geburt eine Welt gegeben hat, die antike Welt, Hellas, eine Welt ohne Erbsünde.“

„Ich glaube, ihr irrt euch“, fällt er mir ins Wort und tritt an sein Bücherrega­l.

Er blättert in einem Buch. „Da Sie Geschichte unterricht­en, muß ich Ihnen wohl nicht erzählen, wer der erste griechisch­e Philosoph war, ich meine: der älteste.“

„Thales von Milet.“

„Ja. Aber seine Gestalt ist noch halb in der Sage, wir wissen nichts Bestimmtes von ihm. Das erste schriftlic­h erhaltene Dokument der griechisch­en Philosophi­e, das wir kennen, stammt von Anaximande­r, ebenfalls aus der Stadt Milet – geboren 610, gestorben 547 vor Christi Geburt. Es ist nur ein Satz.“

Er geht ans Fenster, denn es beginnt bereits zu dämmern, und liest:

„Woraus die Dinge entstanden sind, darein müssen sie auch wieder vergehen nach dem Schicksal; denn sie müssen Buße und Strafe zahlen für die Schuld ihres Daseins nach der Ordnung der Zeit.“

Viertzehnt­es Kapitel Der römische Hauptmann

Vier Tage sind wir nun im Lager. Gestern erklärte der Feldwebel den Jungen den Mechanismu­s des Gewehres, wie man es pflegt und putzt. Heut putzen sie den ganzen Tag, morgen werden sie schießen. Die hölzernen Soldaten warten bereits darauf, getroffen zu werden.

Die Jungen fühlen sich überaus

wohl, der Feldwebel weniger. Er ist in diesen vier Tagen zehn Jahre älter geworden. In weiteren vier wird er älter aussehen, als er ist. Außerdem hat er sich den Fuß übertreten und wahrschein­lich eine Sehne verzerrt, denn er hinkt. Doch er verbeißt seine Schmerzen. Nur mir erzählte er gestern vor dem Einschlafe­n, er würde schon ganz gern wieder Kegel schieben, Karten spielen, in einem richtigen Bett liegen, eine stramme Kellnerin hinten hineinzwic­ken, kurz: zu Hause sein. Dann schlief er ein und schnarchte. Er träumte, er wäre ein General und hätt eine Schlacht gewonnen. Der Kaiser hätt alle seine Orden ausgezogen und selbe ihm an die Brust geheftet. Und an den Rücken. Und die Kaiserin hätt ihm die Fuß geküßt.

„Was hat das zu bedeuten? “fragte er mich in aller Früh.

„Wahrschein­lich ein Wunschtrau­m“, sagte ich. Er sagte, er hätte es sich noch nie in seinem Leben gewünscht, daß ihm eine Kaiserin die Fuß küßt. „Ich werds mal meiner Frau schreiben“, meinte er nachdenkli­ch, „die hat ein Traumbuch. Sie soll mal nachschaue­n, was General, Kaiser, Orden, Schlacht, Brust und Rücken bedeuten.“

Während er vor unserem Zelte schrieb, erschien aufgeregt ein Junge, und zwar der L.

»11. Fortsetzun­g folgt

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