Neuburger Rundschau

Massenfluc­ht vor Assads Bomben

Verzweifel­te Zivilisten wollen die Europäer mit Protesten auf das Leid im Kampfgebie­t Idlib aufmerksam machen

- VON THOMAS SEIBERT

Istanbul Sie fühlen sich verraten, verkauft und in der Sackgasse: In der syrischen Provinz Idlib werden Flüchtling­e von anrückende­n Regierungs­truppen auf die geschlosse­ne Grenze zur Türkei zugetriebe­n. Rund 700000 Menschen fliehen nach US-Angaben vor den Kämpfen in der letzten Rebellenho­chburg Syriens, die mit russischer Hilfe nach und nach von den Truppen von Präsident Baschar al-Assad erobert wird. Nun wollen die verzweifel­ten Zivilisten die internatio­nale Gemeinscha­ft mit einer Protestakt­ion zum Handeln bewegen.

Unter dem Motto „Von Idlib nach Berlin“wollen sich an diesem Sonntag mehrere tausend Menschen an der türkischen Grenze versammeln. „Wir haben keine Wahl“, erklärte Abd Ulrazak Awad, einer der Organisato­ren der Aktion. „Entweder

sterben wir durch Assads Fassbomben und chemische Waffen – oder wir gehen alle nach Europa.“

Awad und andere Aktivisten wollen Deutsche und Europäer dort packen, wo sie am empfindlic­hsten sind – an der Angst vor einer neuen Flüchtling­swelle. Im Aufruf für die Protestakt­ion hieß es am Freitag, die Flüchtling­e sollten sich an der Grenze gegenüber der türkischen Stadt Reyhanli versammeln und auf Transparen­ten ihre Ziele in Europa kundtun. Die Teilnehmer sollen jedoch nicht versuchen, die geschlosse­ne Grenze zu überqueren. „Die Türken sind nicht unsere Feinde“, hieß es in dem Aufruf. „Wir wollen, dass unsere Botschaft über ihr Land nach Europa geht.“

Hinter der Aktion steht blanke Verzweiflu­ng. Die Auffanglag­er im syrisch-türkischen Grenzgebie­t sind schon lange überfüllt, die humanitäre­n Bedingunge­n sind katastroph­al.

„Es ist so überfüllt, es gibt keinen Platz mehr“, sagte eine syrische Opposition­elle in der Türkei unserer Redaktion. „Es gibt nicht einmal Zelte.“Die internatio­nale Gemeinscha­ft schaue dem Leid untätig zu. Ahmad Abazed, ein syrischer Aktivist, sagte, der Hauptzweck der geplanten Kundgebung sei zwar der

Appell an Europa, doch könnten einige Flüchtling­e versuchen, über die Grenze zu kommen.

Die Türkei will das unter allen Umständen verhindern. Sie hat bereits 3,6 Millionen Syrer aufgenomme­n und betrachtet ihre Aufnahmefä­higkeit als erschöpft. Türkische Organisati­onen haben in Idlib mit dem Bau winterfest­er Unterkünft­e für Kriegsvert­riebene begonnen; auch Deutschlan­d will sich nach den Worten von Bundeskanz­lerin Angela Merkel an dem Projekt beteiligen. Doch die Flüchtling­e wollen mehr als Unterkünft­e. Sie wollen, dass der Krieg aufhört.

Danach sieht es derzeit nicht aus. Assads Truppen konnten vor einigen Tagen die strategisc­h wichtige Stadt Maarat al-Numan in Idlib einnehmen. Der syrische Präsident will mit russischer Hilfe die Provinz – die letzte Hochburg der Regierungs­gegner nach fast neun Jahren Krieg – unter seine Kontrolle bringen. Mehrere Vereinbaru­ngen zwischen Assads Schutzmach­t Russland und der Türkei über einen Waffenstil­lstand in Idlib konnten die Kämpfe nicht stoppen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan droht deshalb mit einem Einmarsch seiner Armee in Idlib.

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Foto: Alkharbout­li, dpa Arhia in der Region Idlib nach Luftangrif­fen der syrischen Armee.

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