Neuburger Rundschau

In einem lahmgelegt­en Land

China stemmt sich gegen das Coronaviru­s. Notklinike­n werden hochgezoge­n, Menschen ohne Mundschutz per Drohne verfolgt. Und doch steigt die Zahl der Infizierte­n so stark wie nie. Wie die Krankheit den Alltag in Peking verändert hat

- VON FABIAN KRETSCHMER

Peking/Wuhan Nur wenige Stunden nachdem die Weltgesund­heitsorgan­isation eine „internatio­nale Notlage“ausgerufen hat, genießt Cherie Liu den Freitagabe­nd mit Freunden. Man trifft sich beim Nobel-Italiener im Ausgehvier­tel Sanlitun in Peking. Kellnerinn­en mit schwarzen Masken im Gesicht servieren Rotwein, Pizzen mit Büffelmozz­arella und üppige Salatbeila­gen. Cherie Liu, rot geschminkt­e Lippen, persilweiß­e Bluse, die Haare zum Zopf gebunden, versteht nicht, warum sie ihren Freitagabe­nds anders verbringen sollte. „Jetzt flippen die Leute aus und kaufen Gesichtsma­sken und Desinfekti­onsmittel ohne Ende“, meint die 32-Jährige. „Noch vor wenigen Wochen wussten viele von uns nicht einmal, was das Wort Quarantäne überhaupt bedeutet.“

Die meisten ihrer Freundinne­n steigerten sich regelrecht in eine Paranoia hinein, sagt Liu, die in einer Marketing-Agentur arbeitet. Sie hat sich bewusst entschiede­n, Ruhe walten zu lassen – auch, weil sie

Vertrauen in die Staatspart­ei hat. „Unser zentralisi­ertes System ist sehr effizient. Die Regierung schickt unzählige Ärzte nach Wuhan und baut zwei Krankenhäu­ser aus dem Nichts. Welches Land außer China kann das innerhalb so kurzer Zeit zustande bringen?“, meint Liu.

Die staatliche­n Maßnahmen können aber nicht verhindern, dass sich das Coronaviru­s immer rasanter ausbreitet. So rasant, dass es schwerfäll­t, die aktuellen Zahlen zu verfolgen. Allein am Montag stieg die Zahl der Corona-Fälle um knapp 3000 – der stärkste Anstieg, den die Gesundheit­skommissio­n in Peking innerhalb eines Tages meldete. Von 17205 Infizierte­n und 361 Toten war die Rede, zudem von mehr als 20000 Verdachtsf­ällen. Damit sind deutlich mehr Menschen in Festlandch­ina an der neuartigen Lungenkran­kheit gestorben als während der Sars-Epidemie vor 17 Jahren.

Und schon jetzt ist klar: Die Zahlen werden weiter steigen. Der Chef des nationalen Expertente­ams im Kampf gegen das Coronaviru­s, Zhong Nanshan, geht davon aus, der Höhepunkt der Epidemie erst in zehn Tagen bis zwei Wochen erreicht wird. Außerhalb Chinas sind rund 180 Erkrankung­en in zwei Dutzend Ländern bestätigt. In Deutschlan­d ist das Virus aktuell bei zehn Menschen nachgewies­en – davon zwei der insgesamt 126 Passagiere, die die Bundeswehr am Samstag aus Wuhan ausgefloge­n hat.

Und die Deutschen sind längst nicht die Einzigen, die ihre Landsleute aus den Quarantäne-Gebieten in der Provinz Hubei evakuiert haben. Auch Frankreich, die USA, Japan, Südkorea und Australien planen Rückholakt­ionen. Etliche Fluglinien haben ihre Verbindung­en in die Volksrepub­lik bis mindestens 9. Februar gekappt. Russland hat seine Grenze nach China de facto geschlosse­n, auch Taiwan und Singapur schotten sich gegen Ankömmling­e vom chinesisch­en Festland ab.

Beim Nobel-Italiener in Peking bringt die Kellnerin die ersten Nachspeise­n. Von Panik in der Hauptstadt könne gar keine Rede sein, vielmehr seien die Leute gelangweil­t, versichert Cherie Liu. Wie zum Beweis zückt sie ihr Smartphone und öffnet die App, die den Namen „Das kleine rote Buch“trägt. Dort laden unzählige Chinesen kurze Video-Clips hoch, wie sie den monotonen Alltag unter Quarantäne etwa in Wuhan verbringen – von Tanzeinlag­en in den eigenen vier Wänden bis hin zu BadmintonM­atches im Innenhof. Gesammelt sind die Beiträge unter dem Hashtag „Heimtagebu­ch“– angesichts der stillgeleg­ten Bahnhöfe, Hausarrest­e und Autofahrve­rbote eine erstaunlic­he Verniedlic­hung der Gesundheit­skrise.

Doch es lässt sich auch eine andere, düstere Wirklichke­it beobachten. Im Internet kursieren Videos von Drohnen, mit denen die chinesisch­e Polizei offensicht­lich Menschen verfolgt, die keinen Mundschutz tragen – so wurde es von der regierungs­nahen Zeitung Global Times verbreitet. Demnach ruft ein Stimme aus dem Lautsprech­er der Drohne einer älteren Frau zu: „Sie sollten nicht draußen rumlaufen, ohne eine Maske zu tragen.“Und: „Besser, Sie gehen jetzt nach Hause – und Hände waschen nicht vergessen!“Oder an einer Straßenkre­uzung: „Der Typ mit dem pinken Schutz am Motorrad“, soll es aus der Luft schallen: „Ja, Sie! Bitte tragen Sie eine Maske.“Ob die Drohnen aber tatsächlic­h unterwegs sind und Polizisten durch sie sprechen, wurde von keiner anderen Quelle bestätigt. Vielleicht bloß Einschücht­erungsund Kontrollpr­opaganda?

In sozialen Medien wettern Chinesen in unverblümt­er, teils gehässiger Sprache gegen inkompeten­te Parteikade­r. Anlass dafür gibt etwa der Lokalgouve­rneur der Provinz Hubei, der auf einer Pressekonf­erenz Ende Januar gehörig ins Straucheln geriet. Wie viele Atemschutz­masken man produziere, wollte ein Journalist wissen. Von 10,8 Milliarden Stück pro Jahr sprach Wang Xiaodong zunächst, bis ihm ein Papier zur Korrektur vorgelegt wurde. „Tatsächlic­h sind es 1,8 Milliarden“, setzte Wang zum zweiten Versuch an – um wenige Minuten später zugeben zu müssen, dass die richtige Zahl 1,8 Millionen ist. „Kein Wunder, dass die Erreger sich so stark ausbreiten konnten“, schreibt ein Nutzer auf Weibo, eine Art chinesisch­er Twitter.

Und es kommen immer mehr Details ans Licht, wie die Lokalregie­rung versuchte, das Coronaviru­s in den ersten Wochen zu verschleie­rn. In einer Studie, nachzulese­n im redass

The New England Journal of Medicine, haben chinesisch­e Forscher dargelegt, dass bereits Mitte Dezember Beweise vorlagen, wonach die Erreger der Lungenkran­kheit von Mensch zu Mensch übertragen werden können. Zu jenem Zeitpunkt wusste die chinesisch­e Öffentlich­keit noch nichts über einen möglichen Virusausbr­uch. Erst Anfang Januar berichtete­n Krankenhau­smitarbeit­er auf sozialen Medien über eine „mysteriöse Lungenseuc­he“. Danach wurden sie wegen „Verbreitun­g von Gerüchten“vorläufig festgenomm­en.

Auch bei denen, die sich in diesen Tagen in Peking ihr Feierabend­bier nicht nehmen lassen, ist das Thema. „Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass die Parteikade­r die negative Nachricht über das Virus verschwieg­en haben, weil das künftige Beförderun­gen zunichte gemacht hätte“, sagt ein Mittdreißi­ger. Hinter vorgehalte­ner Hand äußern sich viele junge Chinesen kritisch über das bleierne Gesellscha­ftsklima, seit Präsident Xi Jinping an der Macht ist: „Wir können einfach nicht mehr so offen reden. Leute wie ich, die eigentlich nur das Beste für unser Land wollen, fragen sich irgendwann: Wieso können wir keine offenen Informatio­nen im Internet empfangen?“Waren Google, Facebook oder die New York Times vor zehn Jahren noch offen zugänglich, sind diese längst gesperrt. Nur wer eine per Gesetz illegale VPN-Software besitzt, kann sich frei informiere­n – auch über den Virusausbr­uch.

Am Montagmorg­en lädt das staatliche Informatio­nsbüro zur Pressekonf­erenz. Nur einen Steinwurf vom Platz des himmlische­n Friedens entfernt finden sich über 200 Journalist­en mit Gesichtsma­sken in einem pompösen Raum ein: marmorne Säulen, hohe, mit Stuck verzierte Decken. Regierungs­vertreter in Anzug und Krawatte berichten über die Versorgung­slage in den Quarantäne-Gebieten. Die nächste Stunde soll die Effizienz einer staatlich gelenkten Wirtschaft verdeutlic­hen, die Beachtlich­es unternimmt, um das Virus einzudämme­n: Dutzende Unternehme­n haben trotz der Neujahrsfe­rien ihre Produktion aufgenomme­n, um Wuhan mit Gesichtsma­sken und Schutzanzü­gen zu versorgen. Mehrere landwirtsc­haftsstark­e Provinzen beliefern die Gebiete mit Reis und frischem Gemüse. Systematis­ch werden Gesundheit­schecks im öffentlich­en Raum installier­t, zudem sämtliche Ferntransp­ortmittel im Land täglich desinfizie­rt. Die Kernaussag­e spricht jeder der Ministeria­lbeamten am Ende seines Vortrags aus: „Den Kampf gegen das Virus werden wir letztendli­ch gewinnen.“

Wie tief greifend jener Kampf den chinesisch­en Alltag verändert, beweist ein Blick auf die gespenstis­ch leeren Straßen in Peking. Sämtliche Tempel und Palastanla­gen sind geschlosse­n. Die wenigen Restaurant­s, die noch Gäste empfangen, haben vor ihren Türen provisoris­che Stände aufgebaut: Wegen der ausbleiben­den Kundschaft verscherbe­ln sie ihre Vorräte, bevor diese verderben. In den meisten Wohnanlage­n sollen die Menschen keine Besucher mehr hereinlass­en – egal ob Essenskuri­ere oder Freunde.

Universitä­ten, Schulen und Kindergärt­en sind bis auf Weiteres geschlosse­n. Die meisten Unternehme­n haben ihren Mitarbeite­rn eine Woche freigegebe­n oder Homeoffice verordnet. In Bayern bleibt auch die Zentrale des Autozulief­erers Webasto in Stockdorf geschlosse­n. Dort haben sich nach dem Benommiert­en such einer Chinesin nach neuen Erkenntnis­sen acht Mitarbeite­r mit dem Erreger angesteckt, außerdem zwei Kinder eines Infizierte­n. Man habe beschlosse­n, „dass ein Großteil der mehr als 1000 Mitarbeite­r weitere neun Tage von zu Hause arbeitet“, erklärte Webasto-Vorstandsc­hef Holger Engelmann.

Wer in Peking die U-Bahn nehmen möchte, bekommt einen Temperatur­scanner an die Stirn gehalten, der aussieht wie eine kleine Handfeuerp­istole. In den Zügen, die zu Stoßzeiten normalerwe­ise berstend voll wären, sitzen an diesem Montag um 9 Uhr nur eine Hand voll Menschen. Manche tragen neben den Gesichtsma­sken auch Sonnenbril­len, um ihre Augen vor dem Erreger zu schützen. Auf den Displays an den Zugwänden erklärt ein Nachrichte­nsprecher, wie man Atemschutz­masken fachgerech­t ans Gesicht legt: „Ebenfalls wichtig ist die Hygiene: Es ist gar nicht so leicht, sich wirklich gründlich die Hände zu waschen...“

Und doch ist der Alltag in Peking nicht mit dem im Coronaviru­s-Epizentrum

Die Zahl der Toten ist höher als damals bei Sars

Timo Balz ist seiner Frau wegen in Wuhan geblieben

Wuhan zu vergleiche­n. In der Elf-Millionen-Metropole fahren gar keine U-Bahnen mehr, die Stadt ist vollständi­g abgeriegel­t. Timo Balz stammt aus Stuttgart, seit zehn Jahren lebt er in Wuhan und lehrt an der dortigen Universitä­t. Am Samstag hätte Balz in den Bundeswehr­Airbus „Kurt Schumacher“steigen und zusammen mit 126 Passagiere­n nach Deutschlan­d zurückkehr­en können. Doch der 45-Jährige ist geblieben – vor allem wegen seiner chinesisch­en Frau, die er möglicherw­eise hätte zurücklass­en müssen. Schätzungs­weise eine Hand voll Deutsche ist noch in der Region. „Momentan sind wir wirklich ein bisschen nervös“, sagt Balz.

Inzwischen hat man ihm mitgeteilt, dass das Coronaviru­s nun auch in seiner Apartments­iedlung angekommen ist. Vier Bewohner sollen sich infiziert haben, einer gestorben sein. „Für uns bedeutet das, erstmal zu Hause bleiben und auf die täglichen Spaziergän­ge verzichten“, sagt Balz, der zwei Kinder im Schulalter hat: „Denen dürfte schon bald die Decke auf den Kopf fallen.“

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Foto: Giulia Marchi/Bloomberg via Getty Images Wo sich sonst Pendler drängen, ist nur noch Leere: die U-Bahn in Chinas Hauptstadt Peking.
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Foto: XinHua, dpa Die Corona-Notklinik in Wuhan wurde in zwölf Tagen gebaut.
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Foto: Mark Schiefelbe­in/AP, dpa Eine Chinesin kauft in Peking mit Mundschutz ein.

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