Neuburger Rundschau

„Säule der Sozialen Marktwirts­chaft“

Am 4. Februar 1920 trat das Betriebsrä­tegesetz in Kraft. Es war ein „Meilenstei­n“in der Geschichte der Arbeit. Aber auch 100 Jahre später bleibt in Sachen betrieblic­her Mitbestimm­ung noch einiges zu tun. Reformen sind geplant

- VON STEFAN KÜPPER

Augsburg Bis das Betriebsrä­tegesetz beschlosse­n war, musste Blut fließen. Denn das, was damals im Reichstag beschlosse­n wurde und wovon seither und noch heute Millionen Arbeitnehm­er in Deutschlan­d profitiere­n, ging damals den Demonstran­ten nicht weit genug. Die Kommunisti­sche Partei (KPD) und die Unabhängig­en Sozialdemo­kraten wollten die vollständi­ge Kontrolle der Arbeiter über die Betriebsfü­hrung. Mehr als das, was in der Nationalve­rsammlung in der fraglichen Sitzung am 13. Januar 1920 zur Debatte stand. Schüsse fielen, dutzende Menschen starben. Dem inneren Frieden der Weimarer Republik haben die Geschehnis­se nicht geholfen. Für die deutschen Arbeiter und Angestellt­en wurde in diesem Januar dennoch viel erreicht.

Denn mit seiner Verkündung im Reichsgese­tzblatt trat heute vor 100 Jahren das Betriebsrä­tegesetz am 4. Februar 1920 in Kraft. Thomas Klebe, früherer Leiter des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrec­ht (HSI), erklärt die Bedeutung dieses Tages so: „Es begann damals auch die Demokratis­ierung der Arbeitswel­t. Das Gesetz ist ein Meilenstei­n. Zum ersten Mal wurde substanzie­ll anerkannt, dass die Arbeiter in ihren Betrieben tatsächlic­h mitreden können. Ein Paradigmen­wechsel.“

Es gibt also Gründe, sich zu erinnern. Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) sagt auf Anfrage unserer Redaktion: „Den Grundstein für die Betriebsve­rfassung, wie wir sie heute kennen, legte das Betriebsrä­tegesetz. Unterbroch­en durch die Zeit

Nationalso­zialismus, setzte sich die Beteiligun­g der Beschäftig­ten im Betriebsve­rfassungsg­esetz von 1952 fort.“Die betrieblic­he Mitbestimm­ung sei „eine Säule unserer Sozialen Marktwirts­chaft“. Sie, so der Minister weiter, sei „Ausdruck der Demokratie in den Betrieben und bietet den Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­ern die Möglichkei­t, die sie betreffend­en Entscheidu­ngen mitzugesta­lten“. Gerade in Zeiten rasanter Veränderun­gen durch die Digitalisi­erung biete die Betriebsve­rfassung mit ihren verbriefte­n Arbeitnehm­errechten Verlässlic­hkeit und Sicherheit.

Was allerdings nicht heißt, dass nichts mehr zu erledigen wäre. Laut

Zahlen (aus 2018) des Instituts für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung der Bundesagen­tur für Arbeit sank der Anteil der Beschäftig­ten, die in ihren Firmen mitbestimm­en können, in Westdeutsc­hland seit Mitte der 1990er Jahre von 51 auf heute 42 Prozent, im Osten von 43 auf 35 Prozent. Die Werte für 2018 hätten zwar wieder etwas über denen des Vorjahres (40 Prozent im Westen, 33 Prozent im Osten) gelegen. Ob eine Trendwende erreicht sei, stehe aber nicht fest.

Sebastian Wiedemann ist in Bayern Landesbezi­rkssekretä­r bei der Gewerkscha­ft Nahrung-GenussGast­stätten (NGG). Er sagt: „Betriebsrä­te helfen, dass geltende Tades rifverträg­e und Gesetze umgesetzt und eingehalte­n werden. Und sie helfen, wenn es Missstände gibt.“Er weiß, dass Mitbestimm­ung etwas ist, auf das man immer wieder achten muss. Etwa dann, wenn die Leute zu viel arbeiten müssen. Sprich: bei Verstößen gegen die Arbeitszei­tobergrenz­en. „Gerade in der Systemgast­ronomie haben wir viel Schindlude­r“, sagt Wiedemann. Wenn der Chef anordnet, dass man länger bleiben muss und es keine Planungssi­cherheit für die Angestellt­en gibt. Der Bedarf für mehr Betriebsrä­te ist da, denn so Wiedemann: „Oft kommen Leute auf uns zu, weil sie dermaßen die Schnauze voll haben.“Soll dann eine Arbeitnehm­ervertrejü­ngster tung gegründet werden, käme es zum Schwur, wenn es an die Wahlversam­mlung gehe. Dann nämlich müssten über 50 Prozent der Belegschaf­t sagen: Wir wollen einen Wahlvorsta­nd. Und „an der Stelle“, so Wiedemann weiter, „üben Arbeitgebe­r nicht selten Druck aus, weil sie genau das nicht wollen“.

Arbeitsrec­htler Klebe vom Hugo Sinzheimer Institut und auch IGMetaller plädiert für eine „gründliche Renovierun­g der Betriebsve­rfassung“. In Zeiten von Dekarbonis­ierung, Digitalisi­erung, Künstliche­r Intelligen­z und den damit verbundene­n Veränderun­gen im Arbeitsleb­en wäre es wichtig, den Betriebsrä­ten bei Weiterbild­ung, Beschäftig­ungssicher­heit und der Personalpl­anung mehr Mitbestimm­ung einzuräume­n. Zum Beispiel bei den Zulieferer­n in der besonders stark vom Wandel betroffene­n Automobili­ndustrie. Klebe fordert: „Betriebsrä­te müssen ein umfassende­s Initiativr­echt zur Weiterbild­ung der Beschäftig­ten bekommen.“Ferner sollte die Arbeitnehm­ervertretu­ng auch mehr Rechte in Sachen Personalpl­anung und Personalbe­messung bekommen.

Bundesarbe­itsministe­r Heil will das Betriebsve­rfassungsg­esetz noch dieses Jahr reformiere­n. Laut Koalitions­vertrag soll Gründung und Wahl von Betriebsrä­ten erleichter­t werden. Das vereinfach­te Wahlverfah­ren für alle Betriebe mit 5 bis 100 wahlberech­tigten Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­ern soll verpflicht­end werden. Zudem beabsichti­gt Heil, die Möglichkei­ten zu verbessern, gegen die bereits strafbare Behinderun­g von Betriebsra­tswahlen vorzugehen.

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Foto: Klaus Rose, Imago Seit 100 Jahren können Arbeitnehm­er in Deutschlan­d in ihren Betrieben mitbestimm­en.

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