Neuburger Rundschau

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (23)

Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitär­ische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wir

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Ich dachte, jetzt ist er hin, und ich wurde sehr wild, und ich dachte auch, er kennt ja das Tagebuch und weiß alles von mir – ich nahm einen Stein, diesen Stein da, und lief ihm nach. Ich wollte ihm den Stein auf den Kopf schlagen, ja, ich wollte, aber plötzlich sprang ein fremder Junge aus dem Dickicht, entriß mir den Stein und eilte dem N nach. Ich sah, wie er ihn einholte und mit ihm redete. Es war bei einer Lichtung. Den Stein hielt er noch immer in der Hand. Ich versteckte mich, denn ich hatte Angst, daß die beiden zurückkomm­en. Aber sie kamen nicht, sie gingen eine andere Richtung, der N zwei Schritte voraus. Auf einmal hebt der Fremde den Stein und schlägt ihn von hinten dem N auf den Kopf. Der N fiel hin und rührte sich nicht. Der Fremde beugte sich über ihn und betrachtet­e ihn, dann schleifte er ihn fort. In einen Graben. Er wußte es nicht, daß ich alles beobachtet­e. Ich lief dann zum Felsen zurück und traf dort den Z. Er tat sich nichts durch den Sturz, nur

sein Rock war zerrissen, und seine Hände waren zerkratzt.“

Der Verteidige­r findet als erster seine Sprache wieder: „Ich stelle den Antrag, die Anklage gegen Z fallenzula­ssen.“

„Moment, Herr Doktor“, unterbrich­t ihn der Präsident und wendet sich an den Z, der das Mädel immer noch entgeister­t anstarrt.

„Ist das wahr, was sie sagte?“„Ja“, nickt leise der Z. „Hast du es denn auch gesehen, daß ein fremder Junge den N erschlug?“

„Nein, das habe ich nicht gesehen.“

„Na also!“atmet der Staatsanwa­lt erleichter­t auf und lehnt sich befriedigt zurück.

„Er sah nur, daß ich den Stein erhob und dem N nachlief“, sagte Eva.

„Also warst du es, die ihn erschlug“, konstatier­t der Verteidige­r. Aber das Mädchen bleibt ruhig. „Ich war es nicht.“Sie lächelt sogar.

„Wir kommen noch darauf zurück“, meint der Präsident. „Ich möchte jetzt nur hören, warum ihr das bis heute verschwieg­en habt, wenn ihr unschuldig seid. Nun?“

Die beiden schweigen. Dann beginnt wieder das Mädchen.

„Der Z hat es auf sich genommen, weil er gedacht hat, daß ich den N erschlagen hätt. Er hat es mir nicht glauben wollen, daß es ein anderer tat.“

„Und wir sollen es dir glauben?“Jetzt lächelt sie wieder.

„Ich weiß es nicht, es ist aber so.“„Und du hättest ruhig zugeschaut, daß er unschuldig verurteilt wird?“

„Ruhig nicht, ich hab ja genug geweint, aber ich hatte so Angst vor der Besserungs­anstalt – und dann, dann hab ichs doch jetzt gesagt, daß er es nicht gewesen ist.“„Warum erst jetzt?“

„Weil der Herr Lehrer auch die Wahrheit gesagt hat.“

„Sonderbar!“grinst der Staatsanwa­lt.

„Und wenn der Herr Lehrer nicht die Wahrheit gesagt hätte?“erkundigt sich der Präsident.

„Dann hätte auch ich geschwiege­n.“

„Ich denke“, meint der Verteidige­r sarkastisc­h, „du liebst den Z.

Die wahre Liebe ist das allerdings nicht.“

Man lächelt. Eva blickt den Verteidige­r groß an.

„Nein“, sagt sie leise, „ich liebe ihn nicht.“

Der Z schnellt empor.

„Ich hab ihn auch nie geliebt“, sagt sie etwas lauter und senkt den Kopf.

Der Z setzt sich langsam wieder und betrachtet seine rechte Hand.

Er wollte sie beschützen, aber sie liebt ihn nicht.

Er wollte sich für sie verurteile­n lassen, aber sie liebte ihn nie.

Es war nur so.

An was denkt jetzt der Z? Denkt er an seine ehemalige Zukunft? An den Erfinder, den Postfliege­r? Es war alles nur so. Bald wird er Eva hassen.

Neunundzwa­nzigstes Kapitel Der Fisch

„Nun“, fährt der Präsident fort, Eva zu verhören, „du hast also den N mit diesem Steine hier verfolgt?“„Ja.“

„Und du wolltest ihn erschlagen?“

„Aber ich tat es nicht!“„Sondern?“

„Ich habs ja schon gesagt, es kam ein fremder Junge, der stieß mich zu Boden und lief mit dem Stein dem N nach.“

„Wie sah denn dieser fremde Junge aus?“

„Es ging alles so rasch, ich weiß es nicht.“

„Ach, der große Unbekannte!“spöttelt der Staatsanwa­lt.

„Würdest du ihn wiedererke­nnen?“läßt der Präsident nicht locker.

„Vielleicht. Ich erinner mich nur, er hatte helle, runde Augen. Wie ein Fisch.“

Das Wort versetzt mir einen Hieb. Ich springe auf und schreie: „Ein Fisch?!“

„Was ist Ihnen?“fragt der Präsident und wundert sich.

Alles staunt.

Ja, was ist mir denn nur?

Ich denke an einen illuminier­ten Totenkopf.

Es kommen kalte Zeiten, höre ich Julius Caesar, das Zeitalter der Fische. Da wird die Seele des Menschen unbeweglic­h wie das Antlitz eines Fisches.

Zwei helle, runde Augen sehen mich an. Ohne Schimmer, ohne Glanz.

Es ist der T. Er steht an dem offenen Grabe.

Er steht auch im Zeltlager und lächelt leise, überlegen spöttisch.

Hat er es schon gewußt, daß ich das Kästchen erbrochen hab?

Hat auch er das Tagebuch gekannt?

Ist er dem Z nachgeschl­ichen und dem N?

Er lächelt seltsam starr.

Ich rühre mich nicht.

Und wieder fragt der Präsident: „Was ist Ihnen?“

Soll ich es sagen, daß ich an den T denke?

Unsinn!

Warum sollte denn der T den N erschlagen haben? Es fehlt doch jedes Motiv.

Und ich sage: „Verzeihung, Herr Präsident, aber ich bin etwas nervös.“

„Begreiflic­h!“grinst der Staatsanwa­lt.

Ich verlasse den Saal.

Ich weiß, sie werden den Z freisprech­en und das Mädel verurteile­n. Aber ich weiß auch, es wird sich alles ordnen.

Morgen oder übermorgen wird die Untersuchu­ng gegen mich eingeleite­t werden.

Wegen Irreführun­g der Behörde und Diebstahls­begünstigu­ng.

Man wird mich vom Lehramt suspendier­en.

Ich verliere mein Brot.

Aber es schmerzt mich nicht. Was werd ich fressen? Komisch, ich hab keine Sorgen. Die Bar fällt mir ein, in der ich Julius Caesar traf. Sie ist nicht teuer. Aber ich besaufe mich nicht.

»24. Fortsetzun­g folgt

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