Neuburger Rundschau

Kein Fortschrit­t im Hamsterrad

Ulrich Rasches „Woyzeck“im Münchner Residenzth­eater

- VON BARBARA REITTER-WELTER

München Was ist der Mensch? Dieser Frage spürte nicht nur der Medizinstu­dent Georg Büchner nach, dieses Problem stellte der Dramatiker Büchner ins Zentrum seines Fragments „Woyzeck“. All seine Figuren suchen nach der Wahrheit. Was führt Woyzeck zum Mord an seiner Geliebten? Das Tierische im Menschen, die sozialen Umstände, die ihn zum Underdog machen oder gar die „Hirnwut“? Die heftige, fast expression­istische Szenenfolg­e, die das moderne Drama vorwegnahm, gibt keine Antwort. Ulrich Rasche inszeniert­e das Drama neu – und bot dem Residenzth­eater-Publikum eine soghaft fasziniere­nde, ästhetisch anspruchsv­olle und emotional fordernde Aufführung von fast dreieinhal­b Stunden Spieldauer.

Doch diese, eine Übernahme aus Basel, war grandios in ihrer Synthese von Sprache, Bewegung und Musik. Selten konnte man sich so auf den atemlosen Text konzentrie­ren, dessen Sätze hier in einzelne Worte zerhackt, zerdehnt, manchmal beinah manieriert überakzent­uiert werden. Zwischen den Schauspiel­ern findet kaum Interaktio­n statt, denn Rasche, in Personalun­ion Bühnenbild­ner und Regisseur, hat wieder (wie für Schillers „Räuber“!) ein technoides Meisterwer­k als Spielort entwickelt. Die gigantisch­e Konstrukti­on, eine rotierende Scheibe, manchmal in atemberaub­ender Schräglage, sodass die Darsteller angeseilt spielen müssen, erinnert an ein architekto­nisch utopistisc­hes Kunstwerk des russischen Konstrukti­vismus. Will man es banaler, weckt sie Assoziatio­nen zur hölzernen „Unterwelt“eines altmodisch­en Fahrgestel­ls vom Jahrmarkt. In diesem Räderwerk zählt das Individuum nichts, deshalb agieren alle in einheitlic­hem Schwarz, choreograf­iert wie Tänzer, mit hoch ausdiffere­nzierter Körperspra­che.

Wie Versuchsti­ere rennen sie an gegen ein unvermeidl­iches Fatum, immer in Bewegung auf der glatten Drehscheib­e, doch ohne Fortschrit­t – wie in der Mythologie Sisyphos. Es sind keine Identifika­tionsfigur­en, dennoch wird ihre Tragik wie unter einem Brennglas deutlich. Eine Extremleis­tung für das Kollektiv (Nicola Mastrobera­rdino und Franziska Hackl als Woyzeck und Marie, ebenso intensiv wie die gesamte Mannschaft), muss es doch häufig synchron im Gleichschr­itt, manchmal auch der Situation geschuldet individuel­l, präzise Bewegungen, komplexe Schrittfol­gen in wechselnde­r Geschwindi­gkeit ausführen, dabei immer den Text zum Publikum sprechen – einzeln oder gar chorisch. Das alles ist von der Regie im dunklen Raum effektvoll in Szene gesetzt.

Doch den Takt dazu gibt die Musik vor, dem Rhythmus der sechs Live-Musiker müssen die Schauspiel­er folgen. Monika Roschers drängende Kompositio­n mit ihren manchmal quälend aggressiv hämmernden Sequenzen erinnert immer wieder an Phil Glass Minimal Music – allerdings einige Frequenzen heftiger in der Lautstärke. Weitere Termine am 9., 25. und 26. Februar im Residenzth­eater

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Foto: Sandra Then Auf einer rotierende­n Scheibe inszeniert Ulrich Rasche Büchners „Woyzeck“, der jetzt im Residenzth­eater zu sehen ist.

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