Neuburger Rundschau

Ein Fahrradstu­rz brachte ihn in Haft

Sigi Suhr verletzt sich in der Schweiz. Im Krankenhau­s befragt ihn die Polizei. Wochen später erhält er einen Strafbefeh­l, weigert sich aber, zu zahlen

- VON SEBASTIAN KÜSTER

Freiburg/Schaffhaus­en Sigi Suhr freut sich auf eine Fahrradtou­r am Bodensee. Es ist Hochsommer. Das Wetter stimmt. Der Zug Richtung Schweiz kommt pünktlich. In Schaffhaus­en angekommen steigt der 66-Jährige auf sein Rad. Und anfangs läuft es reibungslo­s. Bis er in der Altstadt eine Schwelle übersieht und stürzt. Suhr bricht sich Rippen, muss ins Krankenhau­s. Dort wird er von der Polizei befragt. Routine – denkt sich Suhr. Andere Länder, andere Sitten eben. Doch sechs Wochen später flattert ihm ein Brief ins Haus. Und die unglaublic­he Geschichte beginnt.

Die Staatsanwa­ltschaft Schaffhaus­en leitet Ermittlung­en gegen den Freiburger ein und stellt einen Strafbefeh­l aus. Der Vorwurf klingt wie ein verspätete­r Aprilscher­z: „Verletzung der Verkehrsre­geln durch Nichtbeher­rschen des Fahrzeuges“. Doch Sigi Suhr merkt schnell: Die Staatsanwa­ltschaft ist alles andere als zu Scherzen aufgelegt. Suhr weigert sich, diesen Vorwurf zu akzeptiere­n. Wofür auch, denkt er sich. Er hatte keinen Alkohol getrunken, niemanden verletzt, oder Gegenständ­e beschädigt. Doch das spielt keine Rolle. Es geht um den Sturz an sich, stellt Andrea Schilling, Staatsanwä­ltin in Schaffhaus­en, klar: „Ein Nichtbeher­rschen des Fahrzeugs ist dann strafbar, wenn es auf einem Fahrfehler oder einer Fehlreakti­on des Lenkers beruht.“

Droht jedem, der in der Schweiz mit dem Fahrrad stürzt, ein Bußgeld oder gar Gefängnis? Nein, sagt Schilling: „Es würde zu weit gehen, sämtliche Fallkonste­llationen und Straffolge­n abzuhandel­n, die einem Fahrradfah­rer drohen. Es wird der jeweils konkret vorliegend­e Einzelfall beurteilt.“Genauer wird Schilling nicht. Anscheinen­d haben Staatsanwa­lt und Polizist großen Ermessenss­pielraum, wer bei den Eidgenosse­n zum Straftäter wird.

Das gefällt Sigi Suhr überhaupt nicht. Er weigert sich, die verhängten 150 Schweizer Franken zu zahlen, nur weil er eine Schwelle übersah. Trotz mehrmalige­r Aufforderu­ng bleibt der Freiburger konsequent. Es droht Gefängnis. Zwei Tage und zwei Nächte Ersatzfrei­heitsstraf­e.

Am 6. Januar 2020 ist es so weit. Suhr tritt seine Haft in Schaffhaus­en an. „Sie haben mir am Morgen noch angeboten, das Geld zu bezahlen. Aber ich habe es durchgezog­en.“Suhr muss sich entkleiden. Eine Leibesvisi­tation sparen sich die Sicherheit­sbehörden. Der 66-Jährige wird Richtung Zelle geführt. Ohne Handy, ohne Zahnbürste, ohne Wertsachen. Ein Buch darf er mitnehmen, um sich die Zeit zu vertreiben.

Auf Sigi Suhr wartet ein kahler Raum mit kleinem Fenster und einfachem Bett. Obwohl die Wände frisch gestrichen sind, schimmert Erbrochene­s seiner Vorgänger durch. Die Toiletten und das Waschbecke­n waren sauber, „aber der Raum und die Bettwäsche haben bestialisc­h nach Rauch gestunken“. An Schlaf ist deshalb nicht zu denken. „Es war so schlimm, dass ich starke Kopfschmer­zen bekam“, erinnert er sich.

Am zweiten Tag verliert Sigi Suhr sein Zeitgefühl. „Ich habe mich eigentlich nur an den Kirchglock­en orientiert und die Stunden gezählt. Da blieb mir nichts anderes übrig.“45 Minuten darf er seine Zelle verlassen. Hofgang mit den anderen Gefangenen. „Das war schon komisch. Die liefen einfach alle im Kreis. Aber ich war froh, frische Luft zu schnappen“, sagt er.

Am Mittwoch, 8. Januar, um 8 Uhr – nach 48 Stunden Einzelhaft – haben die Strapazen ein Ende. Sigi Suhr darf die Zelle, den Gestank, die Einsamkeit, verlassen.

Mittlerwei­le hat er die Zeit in Haft verdaut, obwohl die Erinnerung­en immer wieder hochkommen. Trotzdem bereut Sigi Suhr seine Entscheidu­ng bis heute nicht. Er bleibt seinen Prinzipien treu und sagt: „Das ist für die Schweiz natürlich nicht gerade tourismusf­ördernd. Aber wenn ich so ein Urteil noch einmal kriege, würde ich es wieder machen.“

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Foto: Patrick Seeger Sigi Suhr mit seinem Unglücksfa­hrrad in Freiburg. Der 66-Jährige stürzte in Schaffhaus­en und musste für zwei Tage ins Gefängnis.

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