Neuburger Rundschau

So gefräßig ist der Steuerstaa­t

Bund, Länder und Gemeinden erwirtscha­ften seit Jahren Milliarden­überschüss­e, auch die Rentenund die Arbeitslos­enversiche­rung schwimmen im Geld. Nur der Bürger hat davon nichts. Ein Aufschrei

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger-allgemeine.de

Der Kaiser war noch jung – und er brauchte das Geld. Um sich seinen Traum von einer schlagkräf­tigen Kriegsmari­ne zu erfüllen, griff Wilhelm II. im Frühjahr 1902 zu einer ungewöhnli­chen Maßnahme. Mit einer neuen Steuer von 50 Pfennigen auf jede Flasche Sekt begann der Kaiser den Ausbau seiner Flotte zu finanziere­n. Die ging im Ersten Weltkrieg zwar unter, die Schaumwein­steuer aber gibt es noch heute. Jahr für Jahr spült sie dem Finanzmini­ster verlässlic­h um die 400 Millionen Euro in die Kasse.

Geld, das der Staat einmal hat, gibt er so schnell nicht mehr her. Im vergangene­n Jahr haben Bund, Länder, Gemeinden und Sozialvers­icherungen 50 Milliarden Euro mehr eingenomme­n als ausgegeben. Es war das sechste Überschuss­jahr in Folge – die letzte Steuerentl­astung jedoch, die diesen Namen verdiente, liegt schon 20 Jahre zurück. Und es war keine konservati­vliberale, sondern eine rot-grüne Regierung, die die Steuersätz­e kräftig reduziert und Bürger und Unternehme­n um deutlich mehr als 30 Milliarden Euro entlastet hat.

Seitdem haben Koalitione­n unterschie­dlichster Couleur nur das Allernötig­ste getan: hier die Progressio­n leicht entschärft, da die Freibeträg­e an die Inflation angepasst, dort ein paar Zugeständn­isse an die Wirtschaft als großen Wurf verkauft. Nicht einmal zu einer zügigen und kompletten Abschaffun­g des „Soli“konnten sich Union und SPD bisher durchringe­n. Dabei hatte Helmut Kohl schon bei dessen Einführung versproche­n: „Der Solidaritä­tszuschlag ist bis Ende 1999 endgültig weg.“

Im nächsten Jahr wird Angela Merkel 16 Jahre Kanzlerin sein. In dieser Zeit haben sich die Steuereinn­ahmen fast verdoppelt, während die Durchschni­ttseinkomm­en nur um knapp die Hälfte gestiegen sind. Eine Dividende für den Aufschwung der vergangene­n Jahre, den sie ja mit erwirtscha­ftet haben, bekommen Arbeitnehm­er, Beamte und Selbststän­dige aber bis heute nicht. Saskia Esken, die neue SPDVorsitz­ende, hält Steuersenk­ungen gar für „gefährlich“– es könnte ja jemand auf die Idee kommen, sein Geld lieber nach seinem Gusto auszugeben, anstatt auf die segnende, alles regelnde Kraft des Staates zu vertrauen. Als ob in Zeiten voller Kassen nicht beides möglich wäre, die Steuern zu senken und die zentralen Aufgaben des Staates solide zu finanziere­n: Soziales, Infrastruk­tur, Sicherheit, Bildung, Entwicklun­g. Ja, schlimmer noch: Mit den geplanten Steuern auf den Ausstoß von Kohlendiox­id oder den Handel mit Aktien und Fonds will die Koalition den Bürgern sogar noch tiefer in die Tasche greifen. Dabei ist Deutschlan­d schon jetzt eines der Länder mit der höchsten Steuernund Abgabenquo­te. Grob gerechnet geht von jedem Euro, den jemand verdient, die Hälfte in irgendeine­r Form an den Staat.

Welch absurde Züge die Finanzpoli­tik der Merkel-Jahre angenommen hat, zeigt ein Blick auf den Spitzenste­uersatz. Der liegt mit 42 Prozent heute, Rot-Grün sei Dank, zwar deutlich unter den Werten der Kohl-Jahre und den Sätzen anderer Industriel­änder. Dafür aber zahlen ihn nicht nur Spitzenver­diener, sondern alles in allem rund vier Millionen

Menschen in Deutschlan­d. Musste ein Beschäftig­ter im Jahr 1965 noch das 15-fache eines Durchschni­ttseinkomm­ens verdienen, um überhaupt in die Nähe des Spitzenste­uersatzes zu kommen, so reicht heute häufig schon das Eineinhalb­fache. Ein Facharbeit­er oder Ingenieur, ledig und kinderlos, kann schon mit einem Monatseink­ommen von etwas mehr als 5000 Euro darunterfa­llen. Das heißt nicht, dass er auf jeden Euro 42 Prozent Steuern zahlt, sondern nur auf jeden Euro, der ein zu versteuern­des Jahreseink­ommen von knapp

56 000 Euro übersteigt. Der Befund allerdings ist deswegen nicht weniger dramatisch: Bei einem Großteil der arbeitende­n Mitte kassiert der Staat in einer Weise ab, die ihresgleic­hen sucht. Dieser Staat hat kein Einnahmepr­oblem, sondern ein Ausgabepro­blem, indem er auf Unvorherge­sehenes reflexhaft

mit immer neuen Programmen oder Subvention­en reagiert. Wenn die Bauern über schrumpfen­de Erlöse klagen – warum nicht eine Sondersteu­er auf Fleisch und Käse erheben? Wenn sich niemand freiwillig ein Elektroaut­o zulegt – warum nicht mit einer staatliche­n Prämie neue Anreize schaffen? Wenn Mieten und Immobilien­preise weiter steigen – warum nicht das Baukinderg­eld wieder einführen? Alternativ­en wie die Abschaffun­g der Grunderwer­bsteuer für private Immobilien­käufe werden gar nicht erst geprüft. Das ist heute nicht anders als bei Kaiser Wilhelm und seiner Sektsteuer, der prickelnde­n Schwester der Bier-, der Branntwein­und der Alcopopste­uer. Nicht zu vergessen die „Zwischener­zeugnisste­uer“, ein sperriges Wortungetü­m, mit dem unter anderem Sherry und Portwein künstlich verteuert werden. Und obendrauf kommt hier wie dort immer noch die Mehrwertst­euer. Einkauf für Einkauf. Euro für Euro.

Dabei hätte der Staat Möglichkei­ten genug, die Bürger spürbar zu entlasten – er muss es nur wollen. Eine rasche und vollständi­ge Abschaffun­g des Solidaritä­tszuschlag­es rückwirken­d zum Jahresanfa­ng wäre ein erster Schritt, ein zweiter die Anpassung der Steuerprog­ression an die Inflation. Auf die steigenden Energiepre­ise, eine Folge der üppigen Subvention­ierung des Öko-Stroms, könnte die Koalition mit einer Reduzierun­g der Stromsteue­r reagieren. Der mangelnden Bereitscha­ft der Deutschen, privat fürs Alter vorzusorge­n, ließe sich mit einem Steuervort­eil begegnen: Wer Geld in Aktien oder Fonds anlegt, muss die Erträge nach einer Spekulatio­nsfrist von fünf oder zehn Jahren nicht mehr versteuern. Und wenn in weiten Teilen des Landes faktisch Vollbeschä­ftigung herrscht: Warum nicht den Beitrag zur Arbeitslos­enkasse kräftig senken, die wie die Rentenvers­icherer auch auf Rücklagen im zweistelli­gen Milliarden­bereich sitzt?

„Es ist Zeit für einen parteiüber­greifenden Steuerkons­ens zur Entlastung der Bürger.“Verlangt hat das vor wenigen Tagen kein Funktionär der FDP und kein Abgeordnet­er aus dem Wirtschaft­sflügel der Union, sondern ein Mann, der jeglicher neoliberal­er Umtriebe unverdächt­ig ist: Dietmar Bartsch, der Fraktionsv­orsitzende der Linken. Schließlic­h ist es nicht das Geld von Angela Merkel oder Olaf Scholz, das ein anonymer Staat da bunkert. Es ist unser aller Geld.

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Foto: Michael Kappeller,dpa Knausrig von Berufs wegen: Finanzmini­ster Olaf Scholz.

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