Neuburger Rundschau

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (27)

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Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird… © Projekt Gutenberg

Und was sagte der T? Sie ist die Mörderin, sie will sich nur herauslüge­n.

Ich hasse den T. Plötzlich halte ich.

„Ist es wahr“, frage ich den B, „daß ich bei euch den Spitznamen hab: der Fisch?“

„Aber nein! Das sagt nur der T. Sie haben einen ganz anderen!“„Welchen?“

„Sie heißen: der Neger.“

Er lacht und ich lach mit.

Wir steigen weiter hinab.

Auf einmal wird er wieder ernst. „Herr Lehrer“, sagt er, „glauben Sie nicht auch, daß es der T war, auch wenn ihm der verlorene Kompaß nicht gehört?“

Ich halte wieder.

Was soll ich sagen?

Soll ich sagen: möglich, vielleicht?

Und ich sage: „Ja. Ich glaube auch, daß er es war.“

Die Augen des B leuchten. „Er war es auch“, ruft er begeistert, „und wir werden ihn fangen!“

„Hoffentlic­h!“

„Ich werde im Klub einen Beschluß durchdrück­en, daß der Klub dem Mädel helfen soll! Nach Paragraph sieben sind wir ja nicht nur dazu da, um Bücher zu lesen, sondern auch, um danach zu leben.“

Und ich frage ihn: „Was ist denn euer Leitsatz?“

„Für Wahrheit und Gerechtigk­eit!“

Er ist ganz außer sich vor Tatendrang.

Der Klub wird den T beobachten, auf Schritt und Tritt, Tag und Nacht, und wird mir jeden Tag Bericht erstatten.

„Schön“, sage ich und muß lächeln.

Auch in meiner Kindheit spielten wir Indianer.

Aber jetzt ist der Urwald anders. Jetzt ist er wirklich da.

Vierunddre­ißigstes Kapitel Zwei Briefe

Am nächsten Morgen bekomme ich einen entsetzten Brief von meinen Eltern. Sie sind ganz außer sich, daß ich meinen Beruf verlor. Ob ich denn nicht an sie gedacht hätte, als ich ganz überflüssi­g die Sache mit dem Kästchen erzählte, und warum ich sie denn überhaupt erzählt hätte?!

Ja, ich habe an euch gedacht. Auch an euch.

Beruhigt euch nur, wir werden schon nicht verhungern!

„Wir haben die ganze Nacht nicht geschlafen“, schreibt meine Mutter, „und haben über Dich nachgedach­t.“

So?

„Mit was haben wir das verdient?“fragt mein Vater.

Er ist ein pensionier­ter Werkmeiste­r, und ich muß jetzt an Gott denken.

Ich glaube, er wohnt noch immer nicht bei ihnen, obwohl sie jeden Sonntag in die Kirche gehen.

Ich setze mich und schreibe meinen Eltern.

„Liebe Eltern! Macht Euch keine Sorgen, Gott wird schon helfen“. Ich stocke.

Warum?

Sie wußten es, daß ich nicht an ihn glaubte, und jetzt werden sie denken: schau, jetzt schreibt er von Gott, weil es ihm schlecht geht! Aber das soll niemand denken! Nein, ich schäme mich.

Ich zerreiße den Brief.

Ja, ich bin noch stolz!

Und den ganzen Tag über will ich meinen Eltern schreiben.

Aber ich tu es nicht. Immer wieder fange ich an, aber ich bringe es nicht über das Herz, das Wort Gott niederzusc­hreiben.

Der Abend kommt, und ich bekomme plötzlich wieder Angst vor meiner Wohnung.

Sie ist so leer.

Ich gehe fort.

Ins Kino?

Nein.

Ich gehe in die Bar, die nicht teuer ist.

Dort treffe ich Julius Caesar, es ist sein Stammlokal.

Er freut sich ehrlich, mich zu sehen.

„Es war anständig von Ihnen, das mit dem Kästchen zu sagen, hochanstän­dig! Ich hätts nicht gesagt! Respekt, Respekt!“

Wir trinken und sprechen über den Prozeß.

Ich erzähle vom Fisch.

Er hört mir aufmerksam zu. „Natürlich ist der Fisch derjenige“, meint er. Und dann lächelt er: „Wenn ich Ihnen behilflich sein kann, ihn zu fangen, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung, denn auch ich habe meine Verbindung­en.“

Ja, die hat er allerdings. Immer wieder wird unser Gespräch

gestört. Ich sehe, daß Julius Caesar ehrfürchti­g gegrüßt wird, viele kommen zu ihm und holen sich Rat, denn er ist ein wissender und weiser Mann.

Es ist alles Unkraut.

Ave Caesar, morituri te salutant! Und in mir erwacht plötzlich die Sehnsucht nach der Verkommenh­eit. Wie gerne möchte ich auch einen Totenkopf als Krawattenn­adel haben, den man illuminier­en kann!

„Passen Sie auf Ihren Brief auf!“ruft mir Caesar zu.

„Er fällt Ihnen aus der Tasche!“Ach so, der Brief!

Caesar erklärt gerade einem Fräulein die neuen Paragraphe­n des Gesetzes für öffentlich­e Sittlichke­it. Ich denke an Eva.

Wie wird sie aussehen, wenn sie so alt sein wird wie dieses Fräulein? Wer kann ihr helfen?

Ich setze mich an einen anderen Tisch und schreibe meinen Eltern.

„Macht Euch keine Sorgen, Gott wird schon helfen!“

Und ich zerreiße den Brief nicht wieder.

Oder schrieb ich ihn nur, weil ich getrunken habe?

Egal!

Fünfunddre­ißigstes Kapitel Herbst

Am nächsten Tag überreicht mir meine Hausfrau ein Kuvert, ein Laufbursch­e hätte es abgegeben.

Es ist ein blaues Kuvert, ich erbreche es und muß lächeln.

Die Überschrif­t lautet: „Erster Bericht des Klubs.“Und dann steht da: „Nichts Besonderes vermerkt.“Jaja, der brave Klub!

Er kämpft für Wahrheit und Gerechtigk­eit, kann aber nichts Besonderes vermerken!

Auch ich vermerke nichts. Was soll man nur tun, damit sie nicht verurteilt wird?

Immer denke ich an sie. Liebe ich denn das Mädel?

Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur, daß ich ihr helfen möchte.

Ich hatte viele Weiber, denn ich bin kein Heiliger, und die Weiber sind auch keine Heiligen.

Aber nun liebe ich anders.

Bin ich denn nicht mehr jung? Ist es das Alter?

Unsinn! Es ist doch noch Sommer.

Und ich bekomme jeden Tag ein blaues Kuvert: zweiter, dritter, vierter, fünfter Bericht des Klubs.

Es wird nichts Besonderes vermerkt.

Und die Tage vergehen.

Die Äpfel sind schon reif, und nachts kommen die Nebel.

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