Neuburger Rundschau

Wie Zivilcoura­ge jäh endet

Eine Zugfahrt wird für einen 28-Jährigen zur Tortur – jetzt steht der Fußballfan vor Gericht

- VON ELISA-MADELEINE GLÖCKNER

Neuburg Eigentlich habe er nur einem Mädchen helfen wollen, beteuert der junge Mann im Zeugenstan­d vor dem Neuburger Amtsgerich­t. Er habe nicht damit gerechnet, in die Rolle des Opfers gedrängt zu werden. Ausgeliefe­rt an einen Fußballfan, der ihn beleidigt, demütigt und am Ende sogar ins Gesicht schlägt – und das in aller Öffentlich­keit, wo kaum jemand hilft, wo alle nur wegsehen.

Ein Samstagabe­nd im Februar 2019 in einem Zugabteil nach Ulm. Er sei auf dem Heimweg gewesen, erzählt der 28 Jahre alte Kultur-Manager, als er am Bahnsteig in Ingolstadt eine junge Frau beobachtet­e. „Sie wurde von drei Männern schlimm angemacht.“Da habe er intervenie­ren wollen, versucht, die Aufmerksam­keit des angetrunke­nen Fußball-Pulks auf sich zu ziehen. Anstatt auszusteig­en, wie er es hätte eigentlich tun sollen, sei er im Zug geblieben. Dort setzten sich die Männer in den Sitzkomple­x neben ihn und fingen an, ihn „aufs Obszönste“zu beleidigen. Mit Sätzen wie diesem: „Du sollst verrecken.“Oder diesem: „Abschaum wie dich wollen wir brennen sehen.“

Obwohl der Zug verhältnis­mäßig voll gewesen sein soll, griff niemand ein. Nicht einmal der Schaffner, der nach den Fahrkarten fragte. Das gültige Ticket aber konnte der 28-Jährige natürlich nicht vorweisen. „Passt schon“, der Kontrolleu­r ging weiter. Warum er diesen nicht um Hilfe gebeten habe, will Richterin Sabine Seitz vom Zeugen wissen. „Ich habe mich nicht getraut, weil die Männer unmittelba­r neben mir saßen.“Dann habe sich einer davon – der Mann auf der Anklageban­k – ihm direkt gegenüber gesetzt, sei auf „Tuchfühlun­g gegangen“, und habe ihm drei Mal mit der flachen Hand ins Gesicht geklatscht. Der Gipfel der Demütigung­en, die erst in Neuburg ein jähes Ende nahmen. Dort stieg der Kulturmana­ger aus und rief Hilfe.

Eine vollkommen andere Version dieser gut 15-minütigen Zugfahrt schilderte der Mann auf der Anklageban­k. Demnach war er mit Freunden zunächst in Nürnberg, wo die Fußballman­nschaft gegen Werder

Bremen gespielt hat. Dabei sei etwas Alkohol geflossen. Auf dem Weg nach Hause sei die Gruppe im Zug dann vom Schaffner kontrollie­rt worden. Als dieser seinen Gangnachba­rn, den Kulturmana­ger, danach fragte, habe dieser kein gültiges Ticket vorweisen können. Ohne den jungen Mann für die vermeintli­che Schwarzfah­rt zu rügen, habe sich der Kontrolleu­r abgewendet, man kenne sich, sei weitergega­ngen. „Dann hat sich der junge Mann bei mir beschwert“, erzählt der Angeklagte, der aus Biberach in Baden-Württember­g stammt. Eine Diskussion entstand, die sich aufspielte und erhitzte. Dabei seien auch Beschimpfu­ngen gefallen wie „Sozialschm­arotzer“. Dass er sich rassistisc­h ausgelasse­n haben soll, davon distanzier­t sich der 35-Jährige aber deutlich. „Ich arbeite seit 15 Jahren fast ausschließ­lich mit Ausländern zusammen.“Dazu führe er in seinem Heimatvere­in ein Integratio­nsprogramm. „Rassistisc­he Äußerungen liegen mir mehr als fern.“Ebenso wie es ihm fern liege, Frauen zu belästigen. „Ich bin ein verheirate­ter Mann und Vater.“Oder Menschen

zu schlagen. Warum der junge Mann das behaupte, wisse er nicht. Tatsächlic­h aber ist der Angeklagte wegen diverser Körperverl­etzungen, die er unter Alkoholein­fluss begangen hat, einschlägi­g vorbestraf­t. Er befindet sich immer noch auf Bewährung – einer Zeit, in der er sich nichts zu Schulden kommen lassen darf.

Wegen Beleidigun­g und Körperverl­etzung verurteilt ihn Sabine Seitz deshalb zu fünf Monaten Haft, die der 35-Jährige hinter Gittern verbringen muss. „Aus meiner Sicht haben sich die Vorwürfe so zugetragen“, bekräftigt die Richterin in ihrer Begründung. Der Zeuge habe keinen Grund zu lügen, keinen Belastungs­eifer an den Tag gelegt. „Er war entsetzt, dass so etwas öffentlich passiert und keiner eingreift.“Dann wendet sich Sabine Seitz an den Angeklagte­n: „Ich glaube auch, dass Sie so etwas nicht tun, wenn Sie nüchtern sind.“Mit Alkohol aber sei er enthemmt. Fünf Monate halte sie daher für angemessen, „die absolut nicht zur Bewährung ausgesetzt werden“. Zumal er die Tat in offener Bewährung begangen hat.

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