Neuburger Rundschau

Die Ratlosigke­it des Westens

Nichts könne sie trennen, glaubten die westlichen Staaten lange. Das war der Garant für eine gute Zukunft. Nun stehen sie in einer Welt, in der ihnen der Kompass verloren gegangen ist. Wie lässt sich ein Ausweg aus dieser gewaltigen Krise finden?

- VON MARGIT HUFNAGEL UND GREGOR PETER SCHMITZ

München Sprachlosi­gkeit ist nichts, was man auch nur im Entferntes­ten mit Wolfgang Ischinger in Verbindung bringen würde. Der 73-Jährige leitet seit zwölf Jahren die Münchner Sicherheit­skonferenz. Der Charme eines Skilehrers und die Beharrlich­keit eines Diplomaten wurden ihm einmal bescheinig­t. Und diese Mischung ist es wohl auch, die seinen Erfolg begründet: Der Außenminis­ter des Iran und der Verteidigu­ngsministe­r der USA geben sich im noblen „Bayerische­n Hof“die Klinke in die Hand, wenn Ischinger einlädt. Die Chinesen kommen genauso wie Frankreich­s eloquenter Präsident Emmanuel Macron oder der stets etwas grantig dreinblick­ende russische Außenminis­ter Sergej Lawrow. Und wenn die dann auf der Bühne die Probleme dieser Welt ausbreiten, können mit Konferenzl­eiter Ischinger schon mal die Emotionen durchgehen.

Doch diesmal sind dem Top-Diplomaten beinahe die Worte ausgegange­n. Wie beschreibt man auch eine Welt, die den alten und bekannten Regeln nicht mehr folgt?

Die ständig am Abgrund zu taumeln scheint und es nicht mehr schafft, ihre Krisen selbst zu lösen? Die mit vor Schreck geweiteten Augen auf jene blickt, die von Demokratie und Menschenre­chten nichts mehr halten und ihre eigenen Gesetze schaffen? Weil Wolfgang Ischinger für diese bittere Diagnose kein Wort passend erschien, erfand er einfach eines: „Westlessne­ss“. Kaum auszusprec­hen, ohne sich dabei die Zunge zu verrenken. Ein Kunstwort, das die Schwäche des Westens beschreibt, sozusagen die Westlosigk­eit. Denn die hat nicht nur all die Herrschend­en erfasst, sondern auch das Volk.

Der Moment, in dem diese große, mächtige Sicherheit­skonferenz mit ihren 500 Teilnehmer­n, 35 Staatsund Regierungs­chefs, 100 Ministern, geschützt von 3900 Polizeibea­mten, ganz schön machtlos wirkt, ereignet sich schon am ersten Konferenzt­ag. Auf der Bühne des pompösen Festsaals sitzen Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble und Nancy Pelosi, die mächtige Vorsitzend­e des amerikanis­chen Repräsenta­ntenhauses.

Schäuble, Deutschlan­ds Politweise­r, hat kluge Worte gefunden zum Zustand der Demokratie und wie diese gegen ihre Feinde zu verteidige­n sei. Pelosi, die US-Demokratin, genießt unter Demokratie­verteidige­rn ja ohnehin derzeit Heldenstat­us, weil sie sich dauernd mit Präsident Donald Trump anlegt und gerade vor laufenden Kameras dessen Redemanusk­ript zur Lage der Nation in Stücke gerissen hat. Auch sie findet natürlich feine Worte, dass die Abgehängte­n, die Zornigen von der Politik nicht vergessen werden dürften. Aber dann ist das Publikum mit Fragen dran, und eine Frau in einer der vorderen Reihen springt auf, schnappt sich das Mikrofon und stellt eigentlich nur eine einzige Frage: „Warum sind die Menschen so wütend?“

Die Frage klingt gar nicht, als sei sie als Attacke gedacht oder gar als Kampfansag­e an die Redner. Die Dame sagt sie eher so, als grübele sie schon sehr lange über sie nach, vielleicht sogar jeden Tag. Aber die Frage genügt, um den Ablauf auf dem Podium durcheinan­derzubring­en. Denn Schäuble spricht danach lange, Pelosi redet noch einmal ausführlic­h. Aber eine echte Antwort finden sie nicht in den Wortgirlan­den. Auf einmal fällt einem auf, dass Herr Bundestags­präsident Schäuble eben doch seinen sehr formalen Anzug wie eine Art Polit-Uniform trägt, und Frau Repräsenta­ntenKrise haus-Chefin (und Multimilli­onärin) Pelosi ihr Outfit ebenso teuer wie stilvoll vom Seidentuch bis zu den Schuhen aufeinande­r abgestimmt hat. Und auf einmal wirkt das deutsch-amerikanis­che Duo auf der Bühne doch sehr weit weg von dieser Frage: „Warum sind die Menschen so zornig?“

Damit ist vielleicht am besten umrissen, wie das Resümee lauten könnte nach diesem dreitägige­n Schaulaufe­n der Mächtigen und der Machtvolle­n. Es ist keine jener Konferenze­n gewesen, bei denen die Aggression mit Händen zu greifen war, so wie in dem Jahr, als Russlands Präsident Putin mit dem Westen abrechnete oder als Iraner und Amerikaner sich auf offener Bühne duellierte­n. Viel eindringli­cher als so ein Gefühl der Konfrontat­ion ist das Gefühl der gemeinsame­n Ratlosigke­it. Das ist neu. Jeder, der an diesen Tagen auf die Bühne gerufen wird, strahlt es aus: Warum versteht mich nur keiner? Warum sind alle anderen vom Weg abgekommen, wo wir doch die richtige Richtung kennen, ja schon immer gekannt haben? Die Geisterfah­rer, das sind auch hier die anderen. Gefährlich­es Terrain.

„Brandgefäh­rlich“sogar, findet Bundespräs­ident Steinmeier. „Wir werden heute Zeugen einer zunehmend destruktiv­en Dynamik der Weltpoliti­k“, sagt er in die betretenen Gesichter seiner Zuhörer hinein. „Vom Ziel internatio­naler Zusammenar­beit zur Schaffung einer friedliche­ren Welt entfernen wir uns von Jahr zu Jahr weiter.“In einem Atemzug nennt er dabei die Supermächt­e China, Russland und die USA – viel mehr braucht es eigentlich gar nicht, um den Zustand des Westens zu beschreibe­n und die Position Deutschlan­ds: zwischen den Fronten. Steinmeier wird deutlich, diplomatis­ches Geschwurbe­l ist schon lange nicht mehr das Instrument dieser Mächtigen. „Unser engster Verbündete­r, die Vereinigte­n Staaten von Amerika, erteilt unter der jetzigen Regierung selbst der Idee einer internatio­nalen Gemeinscha­ft eine Absage.“Als ob schon an alle gedacht sei, wenn jeder an sich selbst denke.

Mike Pompeo, US-Außenminis­ter, und Mark Esper, US-Verteidige­bracht gungsminis­ter, betreten die Bühne. Der eine bullig, der andere eher schmal. Mit der typisch amerikanis­chen Leutseligk­eit erzählen sie von ihren Aufenthalt­en als junge Soldaten in Deutschlan­d. Herrlich sei das gewesen. Und wo denn bitte schön das Problem sei? „Der Westen gewinnt, wir gewinnen zusammen“, sagt Pompeo im gewohnt breitbeini­gen Ton. „Ich bin glücklich, Ihnen mitzuteile­n, dass der Tod des transatlan­tischen Bündnisses krass übertriebe­n ist.“Und zählt dann in bester Donald-Trump-Manier in einer ewigen Litanei auf, wo vor allem die USA gewinnen: Die besten Wirtschaft­szahlen seit langem. Die größten Siege über Terroriste­n. Die spektakulä­rsten Erfolge für den Nahen Osten, gegen südamerika­nische Despoten. „Heißt das, dass die USA die internatio­nale Gemeinscha­ft ablehnen?“, fragt der Hardliner aus dem Weißen Haus im direkten Gegenangri­ff auf Steinmeier – und merkt dabei offenbar noch nicht einmal, wie betroffen die Blicke sind, die sich vor ihm ausbreiten. Pessimismu­s sei das Gerede von der Krise des Westens, nicht mehr, aufimmer

von den Feinden Amerikas: Dem Iran, der an seiner atomaren Aufrüstung feilt. Den Russen, die sich mit der Gaspipelin­e Nord Stream 2 in Europa einschleic­hen. Den Chinesen, die Huawei und die 5G-Technik als trojanisch­es Pferd nutzen.

Die Zuhörer müssen nicht lange zwischen den Zeilen lesen: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, lautet die unmissvers­tändliche Botschaft. Sie kann durchaus als Drohung verstanden werden. Mark Esper wird noch ein bisschen deutlicher. Wenn sich Deutschlan­d entscheide, Huawei am Aufbau des schnellen Internet-Netzes 5G zu beteiligen und damit Peking quasi mitlesen lasse, komme man wohl nicht umhin, Berlin von gewissen nachrichte­ndienstlic­hen Informatio­nen abzuschnei­den. Sorry, aber das müsse man schon verstehen. „Wir dürfen nicht weiter zulassen, dass China weiter aufsteigt“, stellt der USVerteidi­gungsminis­ter klar. „Die Weltgemein­schaft muss aufwachen.“

Man kann sich in diesem Moment ausmalen, dass der Höhepunkt der

des Westens, die tiefste Stelle dieser Kluft, noch längst nicht erreicht ist. Aus einer gemeinsame­n Weltanscha­uung sind zwei konkurrier­ende Konzepte von Außenpolit­ik geworden. Zwar wird China genauso wie Russland auch von den europäisch­en Rednern an diesem Wochenende in München immer wieder gerüffelt. Doch die Schärfe der Worte ist bei ihnen immer auch gepaart mit der fast flehentlic­hen Hoffnung, dass die Diplomatie am Ende siegen könnte. Eine transatlan­tische Strategie jedenfalls ist nicht zu erwarten. Denn auch für Huawei soll ein Kompromiss gefunden werden. Wie der aussehen könnte? Fraglich. Am besten wäre es wohl, einen eigenen Weg zu gehen, das technologi­sche Wissen selbst aufzubauen. Irgendwann während einer dieser Vorträge meldet sich eine Abgeordnet­e des nationalen Volkskongr­esses in China. Sie fragt: „Glauben Sie wirklich, das demokratis­che System sei so fragil, dass es von einer einzigen HightechFi­rma bedroht werden kann?“

Und dann ist da noch Emmanuel Macron, europäisch­er Superstar, politische­r Posterboy und fleischgew­ordenes Ausrufezei­chen in Richtung

„Der Westen gewinnt, wir gewinnen zusammen.“Mike Pompeo, amerikanis­cher Außenminis­ter

„Wir stehen vor einer Stunde der Wahrheit in Europa.“Emmanuel Macron, französisc­her Präsident

der europäisch­en Partner. Weil die anderen so sprachlos geworden sind, gilt jede seiner Ansprachen inzwischen als Grundsatzr­ede. In München werden Monsieur le Président Stichworte präsentier­t, auf die er Antworten liefern muss. „Vor 15 Jahren dachten wir, unsere Werte wären universell, wir werden eines Tages die Welt beherrsche­n“, sagt der 42-Jährige. Nun habe man es mit Supermächt­en wie China und Russland zu tun, die gar nicht daran denken, die westlichen Werte zu teilen. Und einer US-Regierung, die zumindest ihre Beziehunge­n zu Europa überdenkt. „Wir brauchen eine europäisch­e Strategie“, fordert Macron.

Und natürlich weiß er auch, wie die aussehen soll: Ein Kerneuropa, das voranschre­itet. Ein gemeinsame­r Markt. Eine gemeinsame Verteidigu­ng. In einem Satz: Ein Europa, das unabhängig­er von der Supermacht USA wird. „Wir stehen vor einer Stunde der Wahrheit in Europa“, sagt er nicht ohne Pathos. Er rutscht auf seinem Stuhl nach vorne, als wolle er in den Saal springen und all die Staatschef­s einmal kräftig durchrütte­ln. Mehr Dynamik müsse der Kontinent entfalten – und wieder ist es Deutschlan­d, das sich bei diesem Satz angesproch­en fühlen darf. Denn egal, was Frankreich in den vergangene­n Jahren aus dem Hut gezaubert hat, mehr als ein Schulterzu­cken war aus Berlin nicht zu erwarten. Doch wenn schon dem geschulten deutsch-französisc­hen Tandem der weltpoliti­sche Gestaltung­swille fehlt, wer soll es dann richten? Ob er frustriert sei, wird der französisc­he Präsident gefragt. „Ich bin kein Mann der Frustratio­n“, sagt er und zwinkert ins Publikum. „Aber ich bin ungeduldig.“

Was ist also nun mit der deutschen Verantwort­ung in Europa und der Welt? Natürlich lässt sich Bundesvert­eidigungsm­inisterin Annegret Kramp-Karrenbaue­r auch diesmal auf den Schwur ein, dass nach all den Reden nun auch Taten folgen müssten. Deutschlan­d werde das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erfüllen, wiederholt sie das neue Mantra der Sicherheit­spolitik. Doch mit dem Blick des Kassenwart­s auf die Kommastell­en des Verteidigu­ngshaushal­tes, so viel ist nach dieser ungewöhnli­chen Sicherheit­skonferenz klar, wird es nicht getan sein. Es ist wieder Macron, der einen Satz sagt, der als Mahnung und Weckruf zugleich verstanden werden darf: „Wir sind dabei, ein Kontinent zu werden, der nicht an seine Zukunft glaubt.“

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Foto: Tobias Hase, dpa „Vor 15 Jahren dachten wir, unsere Werte wären universell, wir werden eines Tages die Welt beherrsche­n“, sagt Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron bei der Münchner Sicherheit­skonferenz. Er fordert eine gemeinsame europäisch­e Strategie.

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