Unfreiwillig schulfrei
An Bayerns Schulen fehlen hunderte Lehrer. Kleinreden lässt sich das Problem nicht mehr. Politiker und Pädagogen diskutieren heftig, von Eltern ist dagegen wenig zu hören. Dabei sind sie und ihre Kinder es, die den Mangel ausbaden
Augsburg Als seine Frau ihm abends in der Küche das Schreiben der Schulleitung zeigt, ist Christian Nork geschockt. „Das darf doch nicht wahr sein“, platzt es aus ihm heraus. Sie sollen ihr Einverständnis dafür geben, dass ihr Sohn künftig ganze Tage lang vom Unterricht zu Hause bleibt. „Aufgrund der knappen Personalsituation sehen wir uns dazu veranlasst, nachmittags oder – im Extremfall – auch ganztägig Klassen nach Hause zu schicken. (...) Wir danken für Ihr Verständnis.“Damals, im Oktober 2019, wird dem Familienvater aus Neufahrn bei Freising schlagartig klar, dass es an Bayerns Schulen nicht rundläuft. „Die Situation ist wirklich katastrophal.“
Es geht um ein Problem, über das Kultusminister in Bayern schon seit Neugründung ihres Ministeriums im Mai 1945 möglichst nicht sprechen wollen: Lehrermangel. Jetzt hat Bayerns aktueller Schulminister Michael Piazolo – der erste seit mehr als 70 Jahren, der nicht von der CSU kommt – den Schwarzen Peter in der Hand. Und kleinreden lässt sich das Problem nicht mehr: Wenn die Politik nicht gegensteuert, fehlen ab Herbst 1400 Lehrer im Freistaat.
Bundesweit gehen die Kultusminister von 12 400 fehlenden Pädagogen bis 2025 aus, die Bertelsmann Stiftung spricht von deutlich mehr. In Thüringen sind Eltern einzelner Schulen zwischenzeitlich dazu übergegangen, ihre Kinder selbst zu Hause zu unterrichten, oder sie teilen sich – wie an einer Grundschule nahe Erfurt – die Kosten für eine private Englischlehrerin.
„Die Hütte brennt“, warnte Bayerns größter Lehrerverband BLLV 2019. Ein Jahr später: selbes Problem, anderer Slogan: „Die Karre steckt im Dreck.“Festgefahren ist die Situation vor allem an Grund-, Mittel- und Förderschulen. Lehrer dieser Schularten ziehen mit Schildern und Trillerpfeifen durch die Innenstädte, fordern mehr Wertschätzung, Entlastungen und Investitionen ins Bildungssystem.
Eltern dagegen schreiben ihre Meinung nicht auf Schilder, demonstrieren nicht in den Innenstädten. Wie also denken sie über den Lehrermangel? Bleiben sie entspannt? Fürchten sie ums Schulsystem? Haben sie gar das Gefühl, dass nur der Mangel verwaltet werde? Hier soll es um sie gehen – um Eltern schulpflichtiger Kinder. Eltern wie Christian Nork und seine Frau.
„Wenn es um die Bildung meiner Kinder geht, bin ich bereit zu kämpfen“, sagt Nork an diesem Tag im Februar. Sein Sohn ist im Teenageralter und besucht die Jo-MihalyMittelschule im oberbayerischen Neufahrn bei Freising, eine Schule mit 18 Klassen und Kletterwand auf dem Gelände. Die Wände haben Schüler unter Anleitung mit Graffiti besprüht. Von außen betrachtet eine lebhafte Schule, an der man gerne lernt und lehrt.
Als der Brief der Schulleitung kam, waren acht der 42 Lehrer längerfristig krank, auch die Schulleiterin fiel aus. Schon vor dem Schreiben hatte es keinen Informatikunterricht gegeben. Auch der Nachmittagsunterricht entfiel regelmäßig. Doch Ersatz für die kranken Lehrkräfte bekam die Jo-MihalyMittelschule nicht, die sogenannten „mobilen Reserven“waren längst anderswo im Einsatz.
Insgesamt gibt es 2500 solcher
Springer, die im Notfall kurzfristig aushelfen sollen. Das ist der Plan auf dem Papier. Doch in der Realität ist das Papier oft schon zu Beginn eines Schuljahrs Müll. Erwartet eine Lehrerin ein Baby oder muss ein Lehrer auf Kur, wird aus einer „mobilen“Reserve schnell eine feste Stütze.
Den einen Grund für den Lehrermangel gibt es dabei nicht. Prinzipiell ist das Lehramtsstudium für Grund- und Mittelschule weniger beliebt – und später auch schlechter bezahlt – als die Ausbildung zum Realschul- oder Gymnasiallehrer. Während es für Grund- und Mittelschulen seit Jahren weniger Bewerber als Stellen gibt, bekommt an den anderen beiden Schularten nur ein Bruchteil der Absolventen eine Anstellung. Dazu kommt der Ausbau der Ganztagsschule und der Inklusion. Zudem lernen heute zehntausende Kinder aus Flüchtlingsfamilien an Bayerns Schulen. 1500 Pädagogen wurden allein für sie eingestellt. Tatsache ist aber auch, dass die Kultusminister über Jahre mit sinkenden Schülerzahlen planten, obwohl die Geburtenstatistik schon längst wieder nach oben zeigte.
Christian Nork ist es egal, warum im Klassenzimmer seines Sohnes kein Lehrer unterrichtet. Ihn empört einfach, dass es so ist.
Damals, als ihm seine Frau das Schreiben der Schulleitung gab, überlegte er nicht lange und beschloss, es öffentlich zu machen. Er lud es ins Internet hoch, dazu die Frage: „Wie kann sowas sein?!“
Der Familienvater – 39 Jahre, Bart, Brille mit schwarzem Rand – ist ein aktiver Twitternutzer. Er teilt Spaßvideos und seine politische Meinung, kommentiert Beiträge von Politikern. Dieses Mal war es umgekehrt: Ein Politiker kommentierte seinen Beitrag – Kultusminister Michael Piazolo. Anders als Nork ist der wahrlich kein „heavy user“. Heißt: Auf seinem TwitterProfil bewegte sich zuletzt nur alle paar Wochen etwas. „Um welche Schule handelt es sich denn?“, fragte Piazolo und bat um eine Mail. Nork schickte ihm die Informationen.
Weil die allerwenigsten Eltern die persönliche E-Mail-Adresse des Kultusministers haben, wenden sich verärgerte Mütter und Väter an den Bayerischen Elternverband – oft an Henrike Paede aus Stadtbergen im Kreis Augsburg, die selbst zwei Kinder großgezogen hat und fast ebenso lange für Elternrechte kämpft. „Im Moment bekommen wir etwa zwei Beschwerden pro Woche“, erzählt sie. „Das ist aber jedes Jahr so.“Denn während die Welt wegen der Coronavirus-Epidemie bangt, setzt in Bayern die Grippe reihenweise Lehrer außer Gefecht. „Mitten in der Grippewelle kommen die meisten Klagen über
Unterrichtsausfall.“Dass die dünne Personaldecke an Schulen reihenweise Eltern empört, beobachtet sie bisher allerdings nicht. „Aber nicht alle Klagen landen bei uns.“
Sind Eltern nicht an den Schulen engagiert, erfahren sie häufig gar nicht, was in den Klassenzimmern geschieht. Eine Änderung im Stundenplan muss die Schule nur dann mitteilen, wenn Unterricht komplett ausfällt.
Fehlende Lehrer, entfallende Stunden, verärgerte Eltern – Bayerns Schulen im Krisenmodus? Das stimmt nun auch wieder nicht so ganz. Es gibt durchaus Eltern, die nichts zu klagen haben – wie Kalina Kafadar. Sie ist Elternsprecherin der Klasse 2d an der Westpark-Grundschule im Augsburger Stadtteil Pfersee. Natürlich liest sie vom Lehrermangel, hört von den Protesten. Sie frage sich dann: „Bekommen meine Kinder die Bildung, die ich mir für sie wünsche?“Bisher sieht sie keinen Grund, daran zu zweifeln. „Ich glaube, dass hier in Bayern die Lage immer noch in Ordnung ist – die Klassenstärken in den Grundschulen zum Beispiel sind im Vergleich zu anderen Schulsystemen gut.“Tatsächlich beträgt die Klassengröße an bayerischen Grundschulen im Schnitt nur gut 20 Kinder. Und der Kultusminister betont, dass das auch so bleiben soll.
An der Westpark-Grundschule merkt Kalina Kafadar noch nichts vom Lehrermangel. „Mein Sohn ist mit der Grundschule fertig, meine Tochter geht jetzt in die zweite Klasse. Bisher hatten wir immer Glück mit der Unterrichtsversorgung“, sagt sie. Kürzlich sei die Lehrerin an einem Freitag krank gewesen – ab Montag sei Ersatz gekommen. An der Frage, ob ein Springer frei ist, hängt oft alle Hoffnung eines Schulleiters. Wer einen Ersatz erhält und wer nicht, ist streng geregelt. Nach Angaben des Kultusministeriums haben langfristige Einsätze Vorrang vor kurzfristigen. „In Zeiten erhöhter Krankheitsausfälle wird eine Priorisierung von Härtefällen vorgenommen“, heißt es aus dem Ministerium. „Die Jahrgangsstufen 1 und 4 sowie die Abschlussklassen an Mittelschulen werden bei Engpässen vorrangig versorgt.“
Auf dem Papier sind diese Regeln nachvollziehbar. Ärgerlich wird es, wenn Schulen und Eltern das Gefühl haben, wieder und wieder übergangen zu werden. So wie die Eltern der Grundschule Kleinostheim in Unterfranken. Sie haben vor kurzem einen Brief ans Kultusministerium geschickt. Auf vier Seiten berichten sie darin von Lehrern, die so ausgelastet seien, dass für Wahlfächer keine Zeit mehr bleibe. „Die Kinder bedauern das sehr.“Sie schreiben von einer vierten Klasse, deren Schüler wochenlang „irgendwie beschäftigt werden“. Sie erzählen von Erstklässlern, die sich allein im ersten Schulhalbjahr an drei neue Klassleiterinnen hätten gewöhnen müssen. „Warum ist das so?“
Familienvater Christian Nork hat auf seinen verärgerten Beitrag im Netz eine Antwort erhalten. Ungefähr vier Wochen später lag ein Brief von Minister Michael Piazolo in seinem Briefkasten. „Ich war positiv überrascht davon, dass der Kultusminister sich gemeldet hat“, sagt er. Das Schreiben sei vor allem eine Auflistung gewesen, was in den vergangenen Jahren getan wurde. Und es enthielt den Hinweis, dass Engpässe in der Lehrerversorgung sich nicht vermeiden ließen.
Christian Nork ist einer von wenigen, die an die Öffentlichkeit gegangen sind. Als er sich beschwerte, richteten sich alle Blicke auf die Mittelschule in Neufahrn – als wäre sie ein Einzelfall. Journalisten kamen, Eltern in ganz Bayern horchten auf, genauso wie das Schulamt und die Spitzenbeamten im Kultusministerium. Und das ist wieder ein Problem. Schließlich finden sich überall in Bayern Schulen wie die Jo-Mihaly-Mittelschule.
Christian Nork sagt: „Nachdem das Schreiben öffentlich war, fiel plötzlich fast gar kein Unterricht mehr aus.“Ihm sei „widergespiegelt“worden, dass jetzt schneller eine Reaktion aus dem Kultusministerium komme, wenn die Schulleiterin eine „mobile Reserve“anfordere. Der Rest sind Notlösungen. Klassen werden zusammengelegt, die Schüler eher beschäftigt als unterrichtet – indem sie Filme schauen zum Beispiel. „Aber natürlich ist es für niemanden zufriedenstellend, wenn die Stunden nur irgendwie gefüllt werden.“Auch für die Lehrer nicht, das weiß er. Niemand soll deshalb den Eindruck bekommen, als wären die Lehrer seines Sohnes vorher schlicht zu bequem gewesen. „An den vorhandenen Lehrern liegt es ganz sicher nicht. Sie reißen sich ein Bein aus, um den Lehrermangel zu kompensieren.“
Christian Nork will zur Lösung beitragen. Er hat sich Gedanken gemacht. „Der Lehrerberuf muss attraktiver werden – gerade an der Mittelschule. Sie hat unbegründet einen viel zu schlechten Ruf. Die Lehrer sollten genauso viel verdienen wie ihre Kollegen an Realschulen und Gymnasien.“Wäre Nork Kultusminister, würde er Lehrer aus anderen Kulturkreisen einsetzen, die nach Deutschland eingewandert sind. Doch wer sich die wortreiche Erläuterung des Ministeriums dazu anhört, kann keinen Zweifel daran haben: Eine Sofortlösung ist das nicht. Problematisch nur: Es ist auch keine andere in Sicht. Zumindest nicht, wenn man den resignierten Eltern von Kleinostheim glaubt.
In ihrem Brief schreiben sie: „Uns graust es, wenn wir an das Ende des Schuljahres denken, falls das knapp geknüpfte Personalnetz überhaupt so lange hält.“
„Im Moment bekommen wir etwa zwei Beschwerden pro Woche.“
Henrike Paede, Bayerischer Elternverband