Diese Rache will gut Weile haben
Peter Handkes neue Erzählung berichtet vom Aufbruch eines Wüterichs, der loszieht, aber nicht zur Tat schreitet. Der Literaturnobelpreisträger fühlt sich aufgehoben unter Menschen in Trambahn, Bus und Vorstadtkneipe
Was für ein merkwürdiger Rachefeldzug das ist! Der Erzähler, der sich nach langer Zeit an einer Journalistin rächen will, von der er seine „heilige Mutter“verleumdet sieht, bricht auf im Dior-Anzug, ohne Lektüre in der Reisetasche, aber mit Hut auf dem Kopf, in dem eine Feder steckt. Der Mann aus dem Pariser Vorort ist ein Rächer „mit verschiedenfarbigen Socken“. Einer, der es nicht besonders eilig hat, ein trödelnder Träumer und Stromer, der jeden Umweg annimmt. „Jetzt ist jetzt und nirgends mehr gehetzt!“, sagt er sich, als spreche er einen Hexenreim.
Dieser Rächer, der der Journalistin nicht nur eine „Missetat“, sondern ein „Verbrechen“gegen die Mutter vorwirft, kommt nicht richtig in die Gänge, was nicht nur daran liegt, dass er gerne rückwärtsgeht. Er rüstet sich auch erst einmal sprachlich, bevor er loszieht. Und wichtiger als die Rachetat ist im Unterwegssein alles andere. Ein Rotkehlchen, die Mitfahrer in der Tram, die Umwege in den „Ersatzbussen“, das Gehen mitten auf der Landstraße. Tatsächlich verliert sich der Rachsüchtige, der anfällig ist für Versöhnlichkeit, in seinen Erlebnissen und Selbstbefragungen – und das „Rächergesicht“, das er am Ende in einem Taschenspiegel betrachtet, ist „fröhlich“. So also „sieht einer aus, dem die lang ersehnte Rache gelungen ist?“
„Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte“heißt das neue Buch von Peter Handke. Geschrieben hat er es im April/Mai 2019, also Monate vor seiner Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis, die Handke über Wochen in ein Fegefeuer der Kritik und heftiger Verurteilung warf. Verharmlosung serbischer Kriegsverbrechen, einseitige Parteinahme im Jugoslawien-Konflikt, Verhöhnung von Opfern – alles das wurde Handke vielstimmig vorgeworfen. Sein literarisches Werk geriet in der Debatte in den Hintergrund.
Und nun also ein neues Buch von diesem Handke, in dem es um Rache geht! Rachegelüste eines Erzählers, der sehr viel – oder fast alles – gemein hat mit dem Autor. Gewaltfantasien, Mordgelüste! Ihm „todfeind gewordene Frauen“. Muss man das nicht doch irgendwie vor dem Hintergrund der Nobelpreisnachwehen lesen? Hie und da scheinen Rezensenten dieser Versuchung zumindest nicht abgeneigt, was aber in eine Sackgasse führen muss.
Die Maigeschichte, liest man sie denn, was sich aufdrängt, autobiografisch, zeigt zunächst einen Handke, der seinen Frieden gemacht hat mit dem Ort, an dem er seit Jahrzehnten lebt: Chaville bei Paris. Er fühlt sich dort endlich angekommen, „nichts mehr würde meine Ortsansässigkeit wie auch -verbundenheit in Frage stellen“, lesen wir. Seitenweise betreibt der Erzähler eine Selbstvergewisserung, verortet sich, fühlt Aufgehobensein. Fast zärtlich beschreibt er die Umgebung, die Geräusche von der Autobahn, den Wind, kläffende Hunde.
Handke ist zugewandt, nicht nur den Vögeln und Pilzen, sondern den Menschen. Nachbarn, die Briefträger waren, Penner, zu denen er sich auf Treppenstufen setzt und aus deren Weinflasche er trinkt. Maurer, Müllmänner und Eckensteher aus dem Bahnhofscafé sind seine „Gemeinde“. Es ist eine Nähe, die er braucht – und doch bleibt er auf Distanz. Das Spiel mit dem Rachemotiv beginnt in der Bahnhofskneipe, wo der Erzähler, nicht ganz ernst gemeint, einen Auftragsmörder sucht, um seine Mutter zu rächen. Allgemeine Übereinkunft: Das muss er selbst machen.
Also: Aufbruch, Unterwegssein – die klassische Handke-Bewegung hinaus in die Welt. „So sprach und erschien ein menschliches Wesen, welches dabei war, nach vielen Jahren des Zögerns, des Aufschiebens, in den Zwischenzeiten auch des Vergessens, aus dem Haus zu gehen und die längst fällige Rache zu exekutieren.“
Doch gemach. Wie wir es kennen von diesem Autor, bremsen Selbstreflexion, Fragen und Suchen nach Worten und Ausdruck sowie allerlei Marotten wie Rückwärtsgehen und Aberglaube das Vorankommen. Und so ist das Unterwegssein „im
Zickzack“mit all den Begegnungen und all den Erinnerungen und Betrachtungen, die sich einstellen, das eigentliche Erzählmotiv. Dieser Rächer ist „pflichtvergessen“und kein Mann der Tat, sondern ein „Randsteinsitzer“, der sich immer wieder in Erinnerungen verliert. „Und da: ich als Kind, was für ein Scheitelwirbel, und erst die Pausbacken.“Handke blickt mit mildem Spott („der Idiot des Tages“) auf sich selbst, den „Rückwärtsgeher“. Richten, rächen, Gerechtigkeit? „Und eine namenlose Freude packte mich, am Nichtstun jetzt, und am weiteren Lassen und Nichtstun, weiter so nichts tun und lassen, und so weiter und so fort.“
Der Erzähler ist aufgewühlt von Erinnerungen. „Ja doch: Schon als Kind hatte ich Gewaltvorstellungen gehabt, und das waren mitnichten bloße Fantasiespiele, zu schweigen hier vom Stiefvater, dem ich nach den Nächten, da er die Mutter quer durchs Haus prügelte – dazu sein Lachen –, mit der aus der Holzhackhütte geholten Axt, als er am Morgen am Fußboden neben dem Ehebett seinen Rausch ausschlief, den Schädel einschlug.“Die Zeitungen – seit der Nobelpreisdebatte weiß jeder, was Handke von Journalisten hält – sieht der Erzähler als „Gipfel der Gewalttätigkeit“, die Mordgedanken bei ihm auslösen. „Ihre Gewalt, indem sie als die alleinrichtige, die es besser wissende, allesdeutende, allesbeurteilende, enthoben den Dingen, den Werken und Tagen, ihre Schriftzeichen schlang, schlaufte, knüpfte und zuzog, war es, die in meinen Augen auf dem Erdkreis das größte Unheil anrichtete und ihren – das gehörte zur Natur solch Fernschreibens – wehrlosen Opfern nie wiedergutzumachendes Unrecht zufügte.“So auch sieht der Erzähler seine Mutter als Opfer einer Journalistin, die ihr in einem Artikel unterstellte, sie habe 1938 in Österreich den Anschluss an Hitlers Deutsches Reich bejubelt, sei eine Anhängerin und Parteigenossin gewesen.
In seiner Maigeschichte schildert der Sohn aber auch, wie er einst die Mutter fragte, „warum sie nicht, auf irgendeine Weise, nein, ihre eigene, gegen das Verbrecherische Widerstand geleistet habe“. Auf den jähen Anwurf keine Antwort. Die Mutter rang nur stumm die Hände. „Und dann weinte sie, wortlos, wimmerte, schluchzte vor ihrem MöchtegernRichter. Und ihr Schluchzen wird niemals aufgehört haben.“
Seine Reise auf der Île de France bringt den Erzähler anderen nahe. Wie auch in früheren Büchern ist das Einvernehmen mit Reisenden im Bus, mit Gästen im Café ein versöhnliches Gemeinschaftserlebnis, das zum Fest wird. Der Rächer, der sich mehr für Maikäfer als für Tagesnachrichten interessiert, stellt fest, „daß ich es in all der Zeit mit keinem einzigen bösen oder schlechten Menschen zu tun gehabt hatte, und das nicht bloß an diesem einen Tag, sondern schon seit Monaten, seit Jahren.“Die Mordgedanken schwinden zur Vorstellung, der Journalistin „möge der Bleistift entzweibrechen“.