Braver Hund, böser Hund
Immer mehr Menschen in Bayern halten einen Hund. Das Problem ist nur: Zugleich steigt die Zahl der Tiere, die zubeißen. Eine junge Frau leidet auch nach anderthalb Jahren unter den Folgen. Über die Frage, auf welcher Seite der Leine das Problem liegt
Burgau Wenn Nancy Tschirnack noch einmal die Möglichkeit hätte, sich zu entscheiden, dann würde sie in so einer Situation vieles anders machen. Sie würde ihren Hund Dash an die Leine nehmen, ihn ins Auto setzen und würde gehen. Hätte. Würde. Was bringt das schon? Nancy Tschirnack, blonde, schulterlange Haare, schwarze Brille, dunkler Pulli, sitzt daheim in Burgau auf der Couch, die rechte Hand um die linke gelegt und zuckt dann mit den Schultern. Weil sich dieser 16. Juni 2018 ohnehin nicht mehr rückgängig machen lässt.
Mit ihrem Mann und den Kindern isst sie an jenem Samstag in ihrem Lieblingsrestaurant. Dash, der Australian Shepherd der Familie, und der Berner Sennenhund der Betreiber spielen wie so oft miteinander. Nancy Tschirnack will verhindern, dass die beiden in den Außenbereich des Lokals rennen, wo Gäste mit einem Labrador und einem Malteser sitzen. Sie ruft Dash zu sich, der folgt. Der Berner Sennenhund aber will in diesem Moment zu den anderen beiden Hunden. „Ab!“, gibt Nancy Tschirnack ihm zu verstehen und macht eine Handbewegung in Richtung seines Kopfes. „In dem Moment hat er nach mir geschnappt“, erzählt sie. „Es war ein richtig tiefer Biss in die linke Hand.“
Das, was Nancy Tschirnack passierte, ist kein Einzelfall. In Bayern hat die Zahl der Hundeattacken in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Seit 2011 erhebt das bayerische Innenministerium, wie häufig Hunde Menschen und andere Tiere beißen. Und während damals noch 870 solcher Vorfälle registriert wurden, waren es 2018 bereits 1281.
Nur: Woran liegt es, dass die Zahl der Hundebisse innerhalb von neun Jahren um fast 50 Prozent gestiegen ist? Die Gründe dafür kennt man im Innenministerium nicht, betont Sprecher Michael Siefener, genauso wenig wie die Folgen der Hundebisse. Aber man hat da eine Vermutung. „Wir gehen davon aus, dass die Zahl der Tiere stark gestiegen ist.“Eine Statistik dazu, wie viele Hunde gehalten werden, existiert nicht – und das, obwohl von den Kommunen eine Hundesteuer erhoben wird. Was es gibt, ist eine Schätzung, die der Industrieverband Heimtierbedarf erhebt. Danach lebten 2018 in Bayern 1,4 Millionen Hunde, das wären 17 Prozent mehr als noch 2015. Siefener sagt: „Das ist wie auf den Straßen – wenn mehr Autos unterwegs sind, passieren eben auch mehr Unfälle.“
Nun sind solche Beißattacken – auch das muss man sagen – die Ausnahme. Und doch gibt es sie: Wie kurz vor Weihnachten, als ein frei laufender Hund eine Joggerin im Augsburger Siebentischwald attackierte und in den Unterarm biss. Oder der Fall Anfang Januar im Kleinwalsertal, als der Labrador einer Familie den siebenjährigen Sohn in den Kopf biss. Regelmäßig wird dann über Leinenzwang und Maulkorb diskutiert, über Listenhunde und gefährliche Rassen. Die meisten Attacken aber gehen nicht, wie man vermuten könnte, auf das Konto von Kampfhunden. 94 Prozent rechnet das Innenministerium „ganz normalen“Hunden zu.
In Nancy Tschirnacks Fall war es ein Familienhund. Ein Tier, das sie seit geraumer Zeit kennt. Eines, sagt die 29-Jährige, ist ihr wichtig, wenn sie ihre Geschichte erzählt: Sie will weder den Hundebesitzer noch das Tier, das sie verletzt hat, schlechtmachen. Es geht ihr auch nicht um Mitleid. Aber sie will, dass sich etwas ändert. Dass die Zahl der Hundebisse sinkt. Weil es, wie sie sagt, zu viele aggressive Tiere gibt.
Ein paar Wochen nach jenem 16. Juni 2018 hat sie vom Restaurantbesitzer erfahren, dass sein Berner Sennenhund schon vorher zugebissen hatte. „Hätte ich das gewusst, hätte ich mich nie da hingestellt, um Verantwortung für meinen Hund zu übernehmen“, sagt sie und streichelt Dash, der zu ihren Füßen bequem liegt, über das weiß-braune Fell. Wieder so ein „hätte“.
So aber sitzt Nancy Tschirnack da, öffnet ihre linke Hand ein Stück weit und zeigt dorthin, wo die Zähne des Hundes sich ins Fleisch gebohrt haben. Die Hand kann sie nicht mehr strecken, an zwei Fingern hat sie das Gefühl verloren. In der Notaufnahme stellen die Ärzte an jenem 16. Juni 2018 fest, dass die Sehnen intakt, die Muskeln aber bis zu den Faszien verletzt sind. Die Wunde wird genäht.
Tschirnack geht mit einem Gips nach Hause, doch die Schmerzen bleiben. Das Narbengewebe verklebt, vier Wochen nach dem Biss muss sie operiert werden. Doch es geht ihr nicht besser. Die Schmerzen nehmen trotz Ergotherapie zu, wieder bildet sich ein Knubbel in der Handfläche, das Narbengewebe umschnürt die Sehnen. Nancy Tschirnack schleppt sich mit Schmerzmitteln durch den Tag, arbeitet wieder als Heilerziehungspflegerin, vier Monate lang. Die Schmerzen werden schlimmer.
Im Bezirkskrankenhaus Günzburg diagnostiziert ein Professor eine periphere Nervenschädigung. Am 18. Februar 2019 wird Nancy Tschirnack nochmals operiert, der Chirurg stellt fest, dass der Mittelarmnerv, der bis in die Handfläche reicht, von Narbengewebe eingequetscht ist. Doch auch danach wird es nicht besser. Im Gegenteil. In der Fachklinik in Ichenhausen, wo sie inzwischen in Behandlung ist, gehen die Ärzte davon aus, dass es sich um Morbus Sudeck oder CRPS handelt, ein komplexes regionales Schmerzsyndrom, bei dem der Körper selbst neuropathische Schmerzen entwickelt. Jede Operation, hat man ihr erklärt, verschlimmert die Krankheit nur. „Letztlich ist das ein Teufelskreis“, sagt Tschirnack.
Und eine Einschränkung, die sie jeden Tag spürt: Sie kann mit der linken Hand kein Glas halten, kann weder mit beiden Händen einen Wäschekorb tragen noch den Boden wischen. Die junge Frau hat gelernt, die Dinge anders zu machen. Ihren Job als Heilerziehungspflegerin im Günzburger Bezirkskrankenhaus aber kann sie nicht mehr ausüben.
„Ich muss mit dieser Beeinträchtigung leben“, sagt Nancy Tschirnack. Einfach ist es nicht. Weil die Schmerzen nicht nachlassen, weil sie immer stärkere Tabletten braucht, weil unklar ist, welche Langzeitfolgen Morbus Sudeck mit sich bringen könnte. Sie versucht, so gut wie es geht zu funktionieren – vor allem für ihren neunjährigen Sohn und die siebenjährige Tochter.
Auch Sabina Gassner kennt Fälle, in denen Hunde zubeißen. Hunde, die danach im Augsburger Tierheim landen, das Gassner leitet. Wie die gut erzogene, ruhige Dogge, die vor kurzem ein Nachbarskind ins Gesicht gebissen hat. Das Kind hatte sich erschrocken, als es den großen Hund sah und begann zu zappeln, die Dogge ging auf das Kind los im Versuch, sich zu verteidigen. Der Halter stand Tage später völlig fertig im Tierheim, wusste nicht, wie er das hätte verhindern können.
Gassner sagt, dass es Ausnahmesituationen gibt, die man im Vorfeld kaum trainieren kann. „Es gibt Tiere, die haben diese Eigenschaft.“
Die Tierschutzorganisation Peta fordert seit geraumer Zeit einen verpflichtenden „Hundeführerschein“. So, wie es ihn in Niedersachsen seit Mitte 2013 gibt. Wer sich zum ersten Mal einen Hund anschafft, muss dort einen Sachkundenachweis in Theorie und Praxis ablegen, der zeigt, dass die Kommunikation mit dem tierischen Begleiter funktioniert. In Bayern gibt es so etwas nicht. Zwar wirbt München mit der Befreiung von der Hundesteuer für ein volles Jahr, wenn Hundehalter freiwillig den Hundeführerschein ablegen. Einen verpflichtenden Sachkundenachweis aber lehnt man im Innenministerium ab – weil das deutlich mehr Kosten und mehr Bürokratie mit sich bringe, der Nutzen aber fraglich sei. Pressesprecher Siefener sagt, dass es „seltener das schiere Unwissen des Halters“sei,