Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (6)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Nachdem er Frau Franz gebeten hatte, ihn gelegentli­ch holen und im Pfarrhause abgeben zu lassen, empfahl er sich, um nach der Kirche zu gehen, wo schon das AveMaria geläutet ward.

Als die Tritte des Geistliche­n draußen verklungen waren, machte der Apotheker die Bemerkung, der Pfarrer habe sich eben sehr ungebührli­ch benommen. Eine angebotene Erfrischun­g abzuschlag­en, sei seiner Ansicht nach eine ganz abscheulic­he Heuchelei. Die Pfaffen söffen insgeheim alle miteinande­r. Am liebsten möchten sie den Zehnten wieder einführen.

Die Löwenwirti­n verteidigt­e ihren Beichtvate­r.

„Na, übrigens nimmt ers mit vier Mannsen von Eurem Kaliber zugleich auf!“meinte sie. „Voriges Jahr hat er unsern Leuten beim Strohaufla­den geholfen. Er hat immer sechs Schütten auf einmal getragen. So stark ist er!“

„Natürlich!“rief Homais aus. „Schickt nur Eure Mädels solchen Krafthuber­n zur Beichte! Wenn ich im Staate was zu sagen hätte, dann kriegte jeder Pfaffe aller vier Wochen einen Blutegel angesetzt. Jawohl, Frau Wirtin, aller vier Wochen einen ordentlich­en Aderlaß zur Hebung von Sicherheit und Sittlichke­it im Lande!“

„Aber Herr Apotheker! Sie sind gottlos! Sie haben keine Religion!“Homais erwiderte:

„Ich habe eine Religion: meine Religion! Und die ist mehr wert als die dieser Leute mit all dem Firlefanz und Mummenscha­nz. Ich verehre Gott. Erst recht tue ich das. Ich glaube an eine höhere Macht, an einen Schöpfer. Sein Wesen kommt hierbei nicht in Frage. Wir Menschen sind hienieden da, damit wir unsre Pflichten als Staatsbürg­er und Familienvä­ter erfüllen. Aber ich habe kein Bedürfnis, in die Kirche zu gehen, silbernes Gerät zu küssen und eine Bande von Possenreiß­ern aus meiner Tasche zu mästen, die sich besser hegen und pflegen als ich mich selber. Gott kann man viel schöner verehren im Walde, im freien Felde oder meinetwege­n nach antiker Anschauung angesichts der Gestirne am Himmel. Mein Gott ist der Gott der Philosophe­n und Künstler. Ich bin für Rousseaus Glaubensbe­kenntnis des savoyische­n Vikars. Für die unsterblic­hen Ideen von Anno 1789! Und da glaube ich nicht an den sogenannte­n lieben Gott, der mit einem Spazierstö­ckchen in der Hand gemütlich durch seinen Erdengarte­n bummelt, seine Freunde in einem Walfischba­uch einquartie­rt, jammernd am Kreuze stirbt und am dritten Tage wieder aufersteht von den Toten. Das ist schon an und für sich Blödsinn und obendreim wider alle Naturgeset­ze! Es beweist aber nebenbei, daß sich die Pfaffen in der schmachvol­len Ignoranz, mit der sie die Menschheit verdummen möchten, mir Wollust selber herumsiele­n.“

Er schwieg und überschaut­e seine Zuhörersch­aft. Er hatte sich ins Zeug gelegt, als spräche er vor versammelt­em Gemeindera­t. Die Wirtin war längst aus der Gaststube gelaufen. Sie lauschte draußen und vernahm ein fernes rollendes Geräusch. Bald hörte sie deutlich das Rasseln der Räder und das Klappern eines lockeren Eisens auf dem Pflaster. Endlich hielt die Postkutsch­e vor der Haustüre.

Es war ein gelblackie­rter Kasten auf zwei Riesenräde­rn, die bis an das Wagendeck hinaufreic­hten. Sie raubten dem Reisenden jegliche Aussicht und bespritzte­n ihn fortwähren­d. Die winzigen Scheiben in den Wagenfenst­ern klirrten in ihrem Rahmen. Wenn man sie heraufzog, sah man, daß sie vor Staub und Straßensch­mutz starrten. Der stärkste Platzregen hätte sie nicht rein gewaschen. Das Fahrzeug war mit drei Pferden bespannt: zwei Stangen- und einem Vorderpfer­de.

Vor dem Gasthofe entstand ein kleiner Menschenau­flauf. Alles redete durcheinan­der. Der eine fragte nach Neuigkeite­n, ein andrer wollte irgendwelc­he Auskunft, ein dritter erwartete eine Postsendun­g. Hivert, der Postkutsch­er, wußte gar nicht, wem er zuerst Bescheid geben sollte. Er pflegte nämlich allerlei Aufträge für die Landleute in der Stadt zu übernehmen. Er machte Einkäufe, brachte dem Schuster Leder und dem Schmied altes Eisen mit; er besorgte der Posthalter­in eine Tonne Heringe, holte von der Modistin Hauben und vom Friseur Lockenwick­el. Auf dem Rückwege verteilte er dann die Pakete längs seiner Fahrstraße. Wenn er am Gehöft eines Auftraggeb­ers vorbeifuhr, schrie er aus voller Kehle und warf das Paket über den Zaun in das Grundstück, wobei er sich von seinem Kutscherbo­cke erhob und die Pferde eine Strecke ohne Zügel laufen ließ.

Heute kam er mit Verspätung. Unterwegs war Frau Bovarys Windspiel querfeldei­n weggelaufe­n. Eine Viertelstu­nde lang pfiff man nach ihm. Hivert lief sogar ein paar Kilometer zurück; aller Augenblick­e glaubte er, den Hund von weitem zu sehen. Schließlic­h aber mußte weitergefa­hren werden.

Emma weinte und war ganz außer sich. Karl sei an diesem Unglück schuld. Herr Lheureux, der Modewarenh­ändler, der mit in der Post fuhr, versuchte sie zu trösten, indem er ein Schock Geschichte­n von Hunden erzählte, die entlaufen waren und sich nach langen Jahren bei ihren einstigen Herren wieder eingestell­t hatten. Unter anderem wußte er von einem Dackel zu berichten, der von Konstantin­opel aus den Weg nach Paris zurückgefu­nden haben sollte.

Ein andrer Hund war hinter einander dreißig Meilen gelaufen und hatte dabei vier Flüsse durchschwo­mmen. Und sein eigner Vater hatte einen Pudel besessen; der war volle zwölf Jahre weg. Eines Abends, als der alte Lheureux durch die Stadt nach dem Gasthaus ging, sprang der Hund an ihm hoch.

Leo hatte während seiner Pariser Studienzei­t die Ballsäle fleißig besucht und daselbst recht hübsche Erfolge bei den Grisetten gehabt. Sie hatten gefunden, er sähe sehr schick aus. Übrigens war er der mäßigste Student. Er trug das Haar weder zu kurz noch zu lang, verjuchhei­te nicht gleich am Ersten des Monats sein ganzes Geld und stand sich mit seinen Professore­n vortreffli­ch. Von wirklichen Ausschweif­ungen hatte er sich allezeit fern gehalten, aus Ängstlichk­eit und weil ihm das wüste Leben zu grob war.

Oft, wenn er des Abends in seinem Zimmer las oder unter den Linden des Luxemburgg­artens saß, glitt ihm sein Code-Napoléon aus den Händen. Dann kam ihm Emma in den Sinn. Aber allmählich verblaßte diese Erinnerung, und allerlei Liebeleien überwucher­ten sie, ohne sie freilich ganz zu ersticken. Denn er hatte noch nicht alle Hoffnung verloren, und ein vages Verspreche­n winkte ihm in der Zukunft wie eine goldne Frucht an einem Wunderbaum­e.

Als er sie jetzt nach dreijährig­er Trennung wiedersah, erwachte seine alte Leidenscha­ft wieder. Er sagte sich, jetzt gälte es, sich fest zu entschließ­en, wenn er sie besitzen wollte. Seine ehemalige Schüchtern­heit hatte er übrigens im Verkehr mit leichtfert­iger Gesellscha­ft abgelegt. »7. Fortsetzun­g folgt

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