Die ersten 1000 Tage sind entscheidend
Eltern haben einen sehr großen Einfluss darauf, wie sich ihre Kinder entwickeln. Etwa, ob sie übergewichtig werden oder eher schlank. Und warum Folsäure eine wichtige Rolle spielt
„Es gibt keine andere Zeit im Leben eines Menschen, die so entscheidend ist im Hinblick auf seine Gesundheit wie die ersten 1000 Tage.“Dies sagt Berthold Koletzko, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin von der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiter der Abteilung für Stoffwechsel und Ernährung des Dr. von Haunerschen Kinderspitals. Gemeint ist damit die Zeit der Schwangerschaft und der beiden ersten Lebensjahre, was über den Daumen gepeilt rund 1000 Tage sind. Dann werden die Weichen für die Gesundheit des ganzen Lebens gestellt. In den ersten 1000 Tagen wächst der Körper rasant und „die Verschaltung des ganzen Systems“findet statt. Die Ernährung hat dabei einen großen Einfluss, denn einerseits müssen genügend Nährstoffe da sein, andererseits bestimmt ein Zuviel an anderen Nährstoffen, ob man sein Leben lang mit Übergewicht zu kämpfen hat.
Streng genommen beginnt die wichtige Phase schon vor der Schwangerschaft. Eine Extra-Versorgung mit Folsäure beispielsweise sollte bei Frauen bereits vier Wochen vor der Befruchtung beginnen und danach für zwölf Wochen beibehalten werden. Dies senkt das Risiko für Neuralrohrdefekte beim Baby um 70 Prozent. Bei dieser schweren Schädigung schließt sich während der Embryonalentwicklung das Neuralrohr – aus dem später das zentrale Nervensystem wird – nicht vollständig, sodass es zu Fehlbildungen im Bereich des Gehirns und Rückenmarks kommt. Als Ursache wird eine Beeinträchtigung der Zellteilung vermutet. Da Folsäure beim Aufbau der Erbsubstanz DNA wichtig ist, scheint es um die Bereitstellung von bestimmten Bausteinen zu gehen. Es ist sinnvoll, ein Folsäure-Präparat schon vor der Befruchtung einzunehmen, denn es dauert einige Wochen, bis eine wirksame Gewebekonzentration erreicht wird. Wenn der Fötus in der frühen Schwangerschaft nicht in ausreichender Menge damit versorgt wird, steigt das Risiko für den Defekt. „Kaum jemand kümmert sich hier darum“, bemängelt Berthold Koletzko. „Die Zahl der Neuralrohrdefekte geht in Deutschland nicht zurück. In Kanada etwa ist das anders: Dort gibt es ein FolsäureProgramm.“
Auch im Hinblick auf Übergewicht und seine Folgeerkrankungen wie Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen spielt die Zeit vor der Schwangerschaft eine Rolle. Mütter, die bei der Befruchtung übergewichtig sind, geben ihrem Nachwuchs eine schwere Hypothek mit. Die Gefahr, dass das Kind übergewichtig wird, nimmt um das Doppelte zu. Regina Ensenauer, Leiterin des neuen Bundesinstituts für Kinderernährung in Karlsruhe, sagt: „Bei einer adipösen Frau ist der Zuckerstoffwechsel in der Schwangerschaft ganz anders als bei einer schlanken Schwangeren.“
Heute sind bereits rund 21 Prozent aller Frauen im gebärfähigen Alter übergewichtig und weitere 17 Prozent adipös. Dies berge für die werdende Mutter ein größeres Risiko für Komplikationen wie eine Schwangerschaftsvergiftung oder Plazenta-Insuffizienz, so Ensenauer. Die Gefahr ist groß, dass die Veranlagung für Adipositas auf die Kinder übertragen wird, die dann die nächste Generation der Übergewichtigen stellen werden. Wer zu viele Pfunde mit sich herumschleppt, dem gehen bis zu 19 gesunde Lebensjahre verloren, wie der Mediziner Koletzko feststellt. Typ2-Diabetes, Bluthochdruck, Fettleber und Arterienverkalkung mit der Gefahr eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls gehören zu den Folgen langjährigen Übergewichts. Um den Teufelskreis zu durchbrechen, bei dem dicke Frauen dicke Kinder zur Welt bringen, die wiederum für die nächste dicke Generation sorgen, muss bei der Prävention angesetzt werden: „Der Body-Mass-Index der Mutter vor der Befruchtung ist wichtig“, betont Koletzko. Auch die nationalen Handlungsempfehlungen des Netzwerks „Gesund ins Leben“besagen, dass Frauen mit Kinderwunsch bereits vor der Schwangerschaft ihr Körpergewicht dem Normalgewicht angleichen sollten. Während der Schwangerschaft sollte die normale körperliche Aktivität beibehalten und die Energiezufuhr nur gering gesteigert werden. Selbst am Ende der Schwangerschaft benötigt der Organismus von Mutter und Kind nur rund zehn Prozent mehr Nahrungsenergie als vorher. Allerdings sollte die Qualität der Nahrung besonders gut sein, also viele Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente enthalten.
Mit der Geburt des Kindes beginnt der nächste Teilabschnitt der so wichtigen ersten 1000 Tage. Auch hier hat die Ernährung des Säuglings einen programmierenden Effekt. Sie wirkt bis ins hohe Alter nach. Dicke, pausbäckige Kinder werden in den meisten Fällen zu übergewichtigen Erwachsenen. Um das zu verhindern, „ist das Stillen energisch zu fördern“, sagt Berthold Koletzko. „Gestillte Säuglinge wachsen anders. Man sieht keine rasche, übermäßige Gewichtszunahme. Gestillte Kinder sind im Alter von einem Jahr leichter als nicht gestillte.“
Den Grund sehen die Experten darin, dass Muttermilch weniger Eiweiß enthält als so manche übliche Flaschennahrung. Deren höhere Eiweißkonzentration scheint insulinähnliche Wachstumsfaktoren zu stimulieren, was eine frühe Gewichtszunahme zur Folge hat und schließlich zum Übergewicht führt.
Aus dem gleichen Grund sollte im ersten Lebensjahr auch keine Kuhmilch gegeben werden. Ihr Proteingehalt ist ebenfalls viel zu hoch. „Für nicht oder nicht voll gestillte Säuglinge sollten bevorzugt Säuglingsanfangsund Folgenahrungen mit niedrigem Eiweißgehalt, aber guter Eiweißqualität ausgewählt werden“, so der Münchner Mediziner. Muttermilch enthält etwa 1,8 Gramm Eiweiß pro 100 Kalorien, im Handel gibt es aber auch Säuglingsanfangsnahrung mit einem Eiweißgehalt von 2,9 Gramm pro 100 Kalorien. „Da muss der Verbraucher schon selbst auf der Verpackung nachlesen, was drin ist“, lautet die Empfehlung Koletzkos.
In einer über mehrere Länder ausgedehnten Studie konnten er und seine Kollegen zeigen, dass Kinder, die mit einem reduzierten, muttermilch-ähnlichen Eiweißgehalt in der Flaschennahrung ernährt wurden, auch noch im Alter von sechs Jahren ein normales Körpergewicht aufwiesen – verglichen mit gestillten Kindern.