Ein paar Tage Nostalgie
Für Tyler Bouck war die Meister-Saison 2014 die schönste und gleichzeitig schwerste Zeit in seinem Leben. Die Neuburger Rundschau traf sich mit dem „Kapitän für die Ewigkeit“auf ein Bier
Ingolstadt Wann immer Tyler Bouck einen wichtigen Termin hat, legt er eine ganz besondere Uhr um sein Handgelenk. Seine Gedanken fliegen dann kurz zurück nach Deutschland. Zu diesem Wunder, wie er es heute noch nennt. Zu einer beschaulichen Stadt in tagelangem Ausnahmezustand. Zu seiner schwersten und gleichzeitig schönsten Saison als Eishockey-Profi. Bouck hat diese Uhr bekommen, weil er am 29. April 2014, um kurz nach halb zehn Uhr abends, einen etwa zehn Kilogramm schweren Pokal in die Höhe stemmen durfte. Der ERC Ingolstadt wird in Köln deutscher Meister, mit ihm als Kapitän, als Leitwolf.
Boucks Bart ist noch genauso grau meliert wie an jenem historischen Tag. Die Stoppeln sind sechs Jahre später akkurat gestutzt, nicht mehr so wild wuchernd, wie das in Eishockey-Endspielen gute Sitte ist. Die Falten um seine väterlichen Augen sind ein wenig tiefer geworden. Es ist ein sonniger Samstagnachmittag, ein Café in der Ingolstädter Altstadt – und die Panther-Legende kommt etwas müde um die Ecke. Am Vortag ist Bouck angereist. Von Kelowna in Westkanada über Calgary, Amsterdam, München, Ingolstadt. Dann: Abendessen im Gasthaus Mo („Ich vermisse die Currywurst“), Zwischenstopp in der Panther-Kneipe Touchdown („Genau mein Stil. Zuhause gehe ich auch in solche Spelunken“), Absacker an der Hotelbar mit alten Freunden.
Der 40-Jährige ist Teil einer großen Wiedervereinigung. Über ein Dutzend ERC-Ikonen halten sich dieser Tage in Ingolstadt anlässlich eines Legenden-Spiels auf (siehe Kasten). Wenn Bouck über das Kopfsteinpflaster schlendert, die bekannten Gebäude sieht, die Bars, die Restaurants – so wie gerade eben noch mit einem gewissen Joe Motzko – dann wird er nostalgisch: „Joe fragte: Begreifen wir eigentlich, wie gut wir es damals hatten? Jeden Morgen ins Stadion zu fahren, dann in die Innenstadt auf einen Kaffee zu gehen, in dieser wunderschönen Stadt zu leben.“
2009 lotst Ex-Sportdirektor Jim Boni den damals 29-Jährigen an die Donau. Der Stürmer hatte mit den kanadischen Junioren Silber und Bronze gewonnen, war in der zweiten Runde von den Dallas Stars gedraftet worden, hatte sich in 93 NHL-Partien aber eher den Ruf als Raubein eingeholt. Ein Leader sollte er sein für die Panther. Einer, der vorangeht. Nicht der typische nordamerikanische Schönspieler.
An einem Sonntagabend seines ersten Augusts in Deutschland sitzt Bouck auf der Strafbank des alten Curt-Frenzel-Stadions in Augsburg. Das Stadion ist offen, draußen hat es noch über 20 Grad, die Fans brüllen – bei einem Vorbereitungsspiel! „Ich dachte mir einfach nur: Das ist doch verrückt“, sagt Bouck.
Es sollten viele denkwürdige Momente folgen: Einen Monat später kassiert der Kanadier eine Matchstrafe wegen Stockstichs in Iserlohn (Bouck: „Ich habe nur meinen
zwischen Kris Sparres Beinen gehabt. Und dann habe ich ihm eine reingehauen.“). Als er in die Kabine fährt, gerät er mit einem Heimfan aneinander. Der zeigt ihn an. Bouck landet bundesweit in den Schlagzeilen. „Er hat meinen Helm weggerissen. Ich habe ihn mir zurückgeholt und wahrscheinlich im Schwitzkasten gehabt. Und dann war ich der Dumme“, erinnert er sich.
In fünf Jahren, drei davon als Kapitän, kommt Bouck auf 201 EinsätSchläger ze im Panther-Trikot. Einmal bricht der Daumen, zweimal reißt ihm das Kreuzband. „Nach dem ersten Mal war ich nie mehr der Alte“, sagt „Boucker“. Nach dem zweiten Mal beginnt die große Achterbahnfahrt. Während der SaisonVorbereitung 2013 verstirbt sein Vater an den Folgen eines tragischen Mähunfalls. Es zerfrisst Bouck. Er spielt schlecht, hilft als Verteidiger aus, ist teils überzählig – als Kapitän eines Teams, das droht, die Playoffs zu verpassen und dessen Fans ihre Spieler am liebsten schon gestern aus der Stadt gejagt hätten. Es ist sein letztes Profi-Jahr, das weiß er. Ende Januar 2014 gibt Bouck auf der Vereinsseite ein Interview mit Durchhalte-Parolen. „Unser damaliger Pressesprecher Bernie Enzinger hat mich angerufen. Ich war frustriert und habe gesagt: Ich mache das nicht! Er hat darauf bestanden.“Drei Monate später stemmt er den Meisterpokal in die Höhe – für einen Hauptrunden-Neunten!
Dieser Text könnte ewig gehen, so scharf, so detailliert ist das Gedächtnis des Captains. Bouck muss heute noch grinsen. Wenn er Jakub Ficenec imitiert, als er Trainer Niklas Sundblad in einer schonungslosen Kabinensitzung wegen seiner militärischen Trainingsmethoden anherrschte. Wenn er erzählt, wie Tim Conboy und er in einem Training aneinandergerieten und danach brüderlich ein Bier tranken. Oder wie er in Sundblads Büro ging, bereit, seine Kapitänsbinde an Patrick Hager abzutreten – und sie behielt, weil er immer eine gewichtige Stimme in der Kabine geblieben war. Wie Ingolstadt Kopf stand, Ende April 2014.
Es ist etwas ruhiger geworden um Tyler Bouck. Mit seiner Frau und drei Söhnen lebt er heute als Makler an einem See in British Columbia. Viel Bootsfahren, ein wenig Golf, donnerstags aufs Eis. An den CaféTisch in der Ingolstädter Altstadt hat sich inzwischen auch Ex-Teamkollege Motzko gesellt. Bouck hat sein Bier genüsslich geleert, die beiden ziehen weiter. Um zwei Uhr morgens wird er noch eine Nachricht schreiben: „Gehe jetzt ins Bett. Brauche ein wenig Schlaf, damit ich morgen hart spielen kann.“Am Ende, um Missverständnissen vorzubeugen, ein Smiley...