Neuburger Rundschau

Schon heute könnte ein Urteil im Fall Tolu fallen

Neben der Journalist­in aus Neu-Ulm sind mehr als hundert Deutsche im Visier der türkischen Justiz

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul In der Türkei sitzen nach Angaben aus dem Auswärtige­n Amt 67 Deutsche in Haft, dazu kommen 69 Bundesbürg­er, die mit einer Ausreisesp­erre belegt sind und das Land nicht verlassen dürfen. Einige davon müssen sich wegen kriminelle­r Delikte wie Drogenschm­uggel verantwort­en, bei anderen geht es um politische Vorwürfe, für die Haftstrafe­n von mehr als 40 Jahren gefordert werden. Manchmal genügte eine kritische Äußerung in den sozialen Medien für eine Festnahme. Ein Ende der Verfolgung­en und der Belastunge­n für die deutsch-türkischen Beziehunge­n ist nicht in Sicht, im Gegenteil: Die türkische Regierung will künftig eigens Richter und Staatsanwä­lte an den Flughäfen postieren, um schnell über verdächtig­e Reisende entscheide­n zu können.

● Mesale Tolu An diesem Dienstag könnte im Prozess gegen die deutsch-türkische Journalist­in Mesale Tolu in Istanbul ein Urteil fallen. Das hatte der Richter beim letzten Verhandlun­gstag im Oktober angekündig­t. Tolus Anwälte rechnen jedoch mit einer erneuten Vertagung des Prozesses, der vor mehr als zwei Jahren begonnen hatte. Die Staatsanwa­ltschaft wirft Tolu, ihrem Ehemann Suat Corlu und ihren Mitangekla­gten die Unterstütz­ung einer linksextre­men Organisati­on vor und fordert bis zu 20 Jahre Haft für die Beschuldig­ten. Tolu, die in Neu-Ulm lebt, saß nach ihrer Festnahme im Frühjahr 2017 ein halbes Jahr in Haft, zeitweise mit ihrem kleinen Sohn Serkan. Anschließe­nd erhielt sie eine Ausreisesp­erre, die erst im August 2018 aufgehoben wurde. Die Familie ist inzwischen wieder in Deutschlan­d.

● Deniz Yücel Auch der ehemalige Türkei-Korrespond­ent der Welt, Deniz Yücel, ist nicht mehr in Istanbul gewesen, seitdem er nach einem Jahr im türkischen Gefängnis im Januar 2018 nach Deutschlan­d heimkehren konnte. Der Prozess gegen den deutschtür­kischen Journalist­en, dem Volksverhe­tzung und Propaganda für die kurdische Terrorgrup­pe PKK vorgeworfe­n wird, läuft ohne ihn weiter – obwohl das türkische Verfassung­sgericht die Verhaftung des Reporters als verfassung­swidrig gerügt hatte. Die

Anklage fordert 16 Jahre Haft für Yücel; das Verfahren soll am 2. April fortgesetz­t werden. Christian Mihr, Geschäftsf­ührer der Organisati­on „Reporter ohne Grenzen“, wertet die Verfahren gegen die Journalist­en Tolu und Yücel als bloße Schauveran­staltungen. „Auch rund zwei Jahre nach ihrer Freilassun­g bleiben Deniz Yücel und Mesale Tolu in den Augen der türkischen Justiz Kriminelle, obwohl sie nur ihre Arbeit gemacht haben“, erklärte Mihr vor kurzem. „Wie lange soll diese Farce noch andauern?“

● Peter Steudtner Dieselbe Frage stellt sich im Fall des Berliner Menschenre­chtlers Peter Steudtner. Er war im Sommer 2017 wegen der Teilnahme an einem Workshop auf der Insel Büyükada bei Istanbul in Haft genommen worden, der von der Staatsanwa­ltschaft als subversive­s Treffen in staatsfein­dlicher Absicht angesehen wird. Steudtner kam zu Prozessbeg­inn im Oktober 2017 frei, doch wie bei Tolu und Yücel läuft der Prozess gegen ihn weiter. Unter den Angeklagte­n sind auch der Ehrenvorsi­tzende von Amnesty Internatio­nal in der Türkei, Taner Kilic, und die ehemalige türkische Amnesty-Direktorin Idil Eser. Beim letzten Prozesstag vorige Woche vertagte das Gericht das Verfahren auf den 3. April.

● Adil Demirci Der deutschtür­kische Kölner Sozialarbe­iter Adil Demirci war im Frühjahr 2018 zu einem Familienbe­such in die Türkei gekommen. Die Staatsanwa­ltschaft ließ ihn festnehmen, weil er – wie Tolu – für die linke Nachrichte­nagentur ETHA schrieb und angeblich Mitglied in einer linksextre­men

Gruppe war. Nach monatelang­er Haft mit anschließe­nder Ausreisesp­erre konnte er im Juni 2019 die Türkei verlassen. Sein Prozess in Istanbul wird am 16. Juni fortgesetz­t.

● Vertrauens­anwalt Seit September sitzt zudem Yilmaz S., ein Vertrauens­anwalt der deutschen Botschaft in Ankara, im Gefängnis. Er sollte für die deutschen Behörden die Angaben von türkischen Asylbewerb­ern überprüfen. Die Anklage wirft ihm Geheimnisv­errat vor. Der Prozess beginnt am 12. März.

● Weitere Deutsche Bereits seit Sommer 2017 sitzt der ehemalige türkische Geheimagen­t und Doppelstaa­tler Enver Altayli in türkischer Haft. Ihm wird vorgeworfe­n, die Bewegung des islamische­n Predigers Fethullah Gülen unterstütz­t zu haben, die für den Putschvers­uch von 2016 verantwort­lich gemacht wird. Die Anklage fordert bis zu 42 Jahre Haft für Altayli. Der Hesse Patrick Kraicker sitzt eine sechsjähri­ge Haftstrafe wegen versuchter Unterstütz­ung der Kurdenmili­z YPG ab. Die kurdischst­ämmige deutsche Sängerin Hozan Cane wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt, weil sie der PKK angehören soll.

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Foto: Kaya Die deutsch-türkische Journalist­in Mesale Tolu aus Neu-Ulm blieb dem Prozess in Istanbul fern.

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