Was war nur sein Motiv?
Der 29-Jährige, der in Volkmarsen mit dem Auto in eine Menschenmenge fuhr, ist immer noch nicht vernehmungsfähig. Die Generalstaatsanwaltschaft übernimmt jetzt die Ermittlungen zu den Hintergründen der Tat
Volkmarsen Der Wind zerrt an den Planen, die den Tatort in Volkmarsen vor Blicken abschirmen sollen. Überall im Ortskern der hessischen Kleinstadt stehen Polizeiwagen. Einsatzkräfte sind an diesem Dienstagmorgen kaum auf der Straße – ebenso wie Bewohner. Einen Tag nach dem Vorfall, bei dem ein Autofahrer in eine feiernde Menschenmenge raste, ist Volkmarsen weit entfernt von Normalität.
Das Auto war am Rosenmontag in einen Faschingsumzug gefahren. Am Steuer saß ein 29 Jahre alter deutscher Staatsbürger, der aus Volkmarsen kommt. Er war nicht alkoholisiert, ob er unter Drogeneinfluss gestanden habe, stehe noch nicht fest, sagte ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Dienstag. Der mutmaßliche Täter zog sich Verletzungen zu und wurde festgenommen. Bislang sei der Mann nicht vernehmungsfähig. Die Zahl der Verletzten stieg bis Redaktionsschluss auf 61, die Zahl der verletzten Kinder lag dabei bei 20. Das jüngste sei drei Jahre alt. Am Dienstag befanden sich noch 35 Menschen in stationärer Behandlung, wie die Polizei in Kassel mitteilte. Die Generalstaatsanwaltschaft ermittelt jetzt wegen versuchten Mords, gefährliche Körperverletzung und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr. Gegen den 29-Jährigen sitzt in Untersuchungshaft. Laut Staatsanwaltschaft ist er dringend verdächtig, beim Rosenmontagsumzug in Volkmarsen sein Fahrzeug „bewusst in Tötungsabsicht in eine größere Personengruppe gesteuert zu haben“. Die große Frage ist: Was war das Motiv des Fahrers?
Ein sogenanntes Gaffervideo hatte noch am Montag zu einer zweiten Festnahme geführt. Ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft sagte, gegen den Festgenommenen werde wegen „Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Filmaufnahmen“ermittelt. Ob es darüber hinaus einen Zusammenhang zu dem Vorfall gegeben habe, müsse noch ermittelt werden.
Taten wie in Volkmarsen beträfen massiv das grundlegende Sicherheitsgefühl der Menschen, sagte der Essener Angstexperte Christian Lüdke. „Das erste Mal drastisch gesehen haben wir das nach den Terroranschlägen in New York, dass wir im Grunde genommen nirgendwo sicher sind.“Nach Taten wie in Volkmarsen entstehe jeweils ein neuer Fokus, auf den sich Aufmerksamkeit und Angst ausrichteten. Dies sei aber nur vorübergehend. Und sollte niemanden abhalten, „genau die Dinge zu tun, die wir geplant haben, mit den Kindern rausgehen, zum Umzug gehen oder zu einem Konzert“, sagte Lüdke.
Aber soll man trotz der schrecklichen Bilder aus Volkmarsen feiern? Diese Frage trieb am Faschingsdienstag Sicherheitsbehörden und Veranstalter in Hessen um. Am Vormittag entschied das Innenministerium, die Umzüge können starten. Es gebe keine konkreten Hinweise darauf, dass sich die Gefährdungslage erhöht habe. In einigen Städten gab es Absagen, in anderen herrschte buntes Treiben.
Kriminalexperte und Psychotherapeut Lüdke sagte, Ängste würden durch Vermeidung schlimmer. „Am Ende hat man Angst vor der Angst.“Daher wäre es grundverkehrt, das Haus nicht zu verlassen. Was man auch nicht tun sollte: Zu viele Bilder der Taten ansehen. „Wenn ich mir permanent diese Bilder anschaue, und wir werden damit extrem konfrontiert, manchmal in Echtzeit, kann das dazu führen, dass Unbeteiligte an ihren Bildschirmen genauso hoch belastet werden wie direkt vor Ort Betroffene.“Spekulationen in sozialen Medien heizten Unsicherheit und Ängste zusätzlich an. Lüdke empfahl daher, seriöse Nachrichtenquellen zu nutzen. Solche Informationen, auch auf den Internetseiten der Polizei, gäben Sicherheit.
In Volkmarsen waren am Abend nach der Tat Spezialkräfte zweimal in Häuser im Ortskern vorgedrungen. Die Gebäude werden von der Polizei abgeschirmt. Wer da wohnt? „Keine Ahnung“, sagte ein Anwohner. Der Name des Tatverdächtigen kursiert im Ort. Doch er kenne den Mann nicht. An der Haupt- und Realschule der Kleinstadt fand kein
Unterricht statt. Das sei länger geplant gewesen und habe nichts mit dem Ereignis des Vortags zu tun, hieß es von der Schule.
Aus dem Rathaus gab es kein Statement. Der Bürgermeister sei nicht zu sprechen. Einer der wenigen, die etwas sagten, ist der katholische Pfarrer Martin Fischer: „Die Volkmarser haben einen sehr guten Zusammenhalt. Ich denke, dass dieser Zusammenhalt nicht durch die Tat beschädigt wird“, erklärte er. Die Einwohner gingen unterschiedlich mit dem Erlebten um. Die einen wollten darüber sprechen, die anderen zögen sich zurück. Im katholischen Kindergarten gebe es bereits ein Hilfsangebot: „Gemeindereferenten bieten Gespräche für Eltern an.“Die Kinder? „Ich denke, dass wir das noch aufarbeiten müssen“, sagte Fischer. Für den Abend war ein ökumenischer Gottesdienst geplant. „Wir sind Volkmarsen, wir halten zusammen und stehen in dieser schweren Stunde zusammen“, schrieb der Vorsitzende der Karnevalsgesellschaft Volkmarsen, Christian Diste, auf Twitter.
Göran Gehlen, Isabell Scheuplein, dpa
„Wir halten zusammen in dieser schweren Stunde.“Christian Diste, Karnevalsgesellschaft Volkmarsen