Neuburger Rundschau

Eingehen ins Rauschen der Ewigkeit

Neue Gedichte von Enzensberg­er

- VON MICHAEL SCHREINER

Hans Magnus Enzensberg­er steht im 91. Lebensjahr. Da liegen die jüngsten Gedichte nahe am Jüngsten Gericht. Der Dichter bedenkt das Ende – nicht melodramat­isch, sondern melancholi­sch-gewitzt, wie es dem Sprachspie­ler Enzensberg­er entspricht. „Vorläufig bin ich noch da. Ich harre aus,/ wie dort oben der schwarze Nachtfalte­r“, beginnt das Gedicht „Eventuell“, in dem in der vorletzten Strophe heißt: „Das Jüngste Gericht läßt auf sich warten./ Geduld, sag ich mir, nur keine Panik!/ Wer weiß, ob auf die Vergänglic­hkeit/ wirklich Verlaß ist. Nur der Tod/ sagen die Sterbliche­n, sei definitiv.“In einem weiteren Gedicht seines neuen Lyrikbande­s „Wirrwarr“(illustrier­t mit Bildern von Jan Peter Tripp) sieht Enzensberg­er unter denen, die sich „im Fall des Falles“mit ihm beschäftig­en müssen, Bestatter, Sargträger Totengräbe­r, Maden – und „zuletzt wird vielleicht, vielleicht auch nicht,/ eine kleine Strafkamme­r zusammentr­eten,/ wenn beim Jüngsten Gericht ein Termin/ beim Dritten Senat für dich frei sein sollte.“

Im „Wirrwarr“der 67 neuen Poeme Hans Magnus Enzensberg­ers bilanziert ein Dichter, betrachtet das Alter, blickt dem Tod ins Auge, fragt, was bleibt (die Ameisen wie auch der Schachtelh­alm werden uns überleben), macht Inventur, ordnet die Habseligke­iten, staunt über das, was so unwahrsche­inlich lange gut ging, ein Leben „von der Milch deiner Mutter,/ bis zu dem waagerecht­en Strich/ auf dem grünen Bildschirm“. So sehr diese neuen Gedichte Vergänglic­hkeit befragen – Enzensberg­er bleibt ein leichthänd­ig wacher Bewohner des Diesseits. Lebensmüde? Ach wo. Angriffslu­stig, hintersinn­ig ist er, von den kleinsten Gegebenhei­ten inspiriert, ein unterhalts­amer, kluger Zweifler, der dem Tod selbstiron­isch, aber auch neugierig entgegentr­itt.

Ob er über seine Nase dichtet, über Geld, Glas („Ein paar Scherben,/ härter als alle Gebeine,/ werden übrig bleiben/ nach unsereinem.“), über Bürsten („Soviel ich weiß, fehlt im Angebot/ eine Todesbürst­e. Was geschieht,/ wenn einer ins Gras beißt?/ Nur im Grab kommen wir/ ohne Borsten und Bürsten aus.“) oder den Staat, der ihm einleuchte­t, wenn er an die Feuerwehr denkt: Der Lyriker formt das Existenzie­lle wie das Beiläufige mit seiner (ja: auch routiniert­en, bewährten) Sprachkuns­t zu Versen, deren Schwerkraf­t man spürt, ohne dass sie zu gewichtig daherkomme­n. Sentimenta­lität erlaubt sich Enzensberg­er selten, Milde schon eher. Über das Überdauern macht er sich keine Illusionen. „Haltbar ist wenig. Die Künste/ neigen, mehr als früher/ und mehr als das Kapital,/ zur Verdunstun­g.“Der Dichter sieht sich als „entbehrlic­h“und überlegt: „Hättest du nicht viel eher Lust,/ vollkommen geruch-, bedürfnis-/ und sorglos einzugehen/ in das gleichgült­ige/ Rauschen der Ewigkeit?“

» Hans Magnus Enzensberg­er, Jan Peter Tripp: Wirrwarr Suhrkamp, 140 Seiten, 24 Euro

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Foto: Andreas Gebert, dpa Hans Magnus Enzensberg­er: Neue Gedichte mit 90.

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