Von Caligari zu Höcke?
Vor 100 Jahren kam einer der berühmtesten deutschen Filme auf die Leinwand, der laut einer populären Deutung den Weg in die Nazidiktatur vorzeichnete. Er hat uns heute noch viel zu sagen
Es gibt da diese unheimliche Szene, wo man nur Schatten an der Wand sieht, Schatten, die sich bewegen, Schatten, die miteinander ringen, Schatten, die schließlich morden. Und die Wirkung dessen, was man da sieht (oder eben nicht), ist umso größer, als dass dieser seltsame Film ansonsten ja gerade dadurch besticht, in einer merkwürdig flächigen Studiokulisse gedreht worden zu sein, auf die selbst Licht und eben Schatten gemalt sind, in expressionistischer Manier gewohnt gezackt, gleichwohl statisch prangend. Und dann also: ein Mord. Viel mehr Dynamik geht nicht. Und viel mehr Abgrund ebenfalls kaum. Wer oder was geht da um?
Man kann in diesen Tagen, in denen kaum ein einziger vergeht, an dem nicht historische Parallelen gezogen werden, an denen nicht die runden, dunklen Jahrestage sich reihen und in denen ständig auf die Goldenen Zwanziger und deren braunes Ende verwiesen wird, man kann in all dem rasenden Bemühen, aus Geschichte eine Farce zu machen, eigentlich nicht auch noch mit einer vor genau 100 Jahren datierten Kino-Uraufführung kommen. Sollte man in diesem Fall aber vielleicht doch.
„Das Cabinet des Dr. Caligari“, in Babelsberg gedreht, am 27. Februar 1920 im Berliner „Marmorhaus“erstmals gezeigt, gilt als Meilenstein und einer der berühmtesten deutschen Filme überhaupt, wozu nicht nur die bereits erwähnte proto-expressionistische Kulisse von Walter Reimann, Hermann Warm und Walter Röhrig, die Regie von
Robert Wiene, das unheimliche Spiel von Werner Krauß und Conrad Veidt beitrugen. Sondern, zumindest im Nachhinein, wohl auch der fast schon sprichwörtlich gewordene, thesenhafte Buchtitel des exilierten Soziologen und Filmtheoretikers Siegfried Kracauer: „Von Caligari zu Hitler“(1947).
Die Grundannahme: In Filmproduktionen kann der allgemeine Gemütszustand, die Verfasstheit einer Gesellschaft abgelesen werden – allein, weil Filme eben eine Produktion sind, also ein von vielen Menschen für noch mehr Menschen organisiertes Angebot, das an der Kasse reüssieren soll und deswegen auch die Bedürfnisse der Masse nicht außer Acht lassen darf, ja: sie eigentlich erst recht antizipieren, vorausahnen muss. Und was man laut Kracauer damals, in den Filmen der Weimarer Republik, eben sehen, vorausahnen konnte, war der Gang in das Inferno des Dritten Reichs – und der Caligari der Ausgangspunkt.
Es geht um Chaos, Wahnsinn und Autoritarismus, um die Kollektivdisposition der Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg, wenn man so will die unbewusste Sehnsucht nach Unterordnung und einem Führer – Kracauer selbst spricht angesichts des Caligari von einer „Vorahnung Hitlers“.
Es geht in dem Film aber erst einmal auch um eine unheimliche Mordserie, die eine fiktive Kleinstadt in Aufruhr versetzt. Recht schnell wird der vermeintliche Täter (von einer Meute aufgebrachter Bürger) gefasst, nur Franzis, dessen bester Freund ebenfalls ermordet wurde, hegt einen anderen Verdacht, der sich schließlich bestätigt: Ein als Jahrmarktattraktion eingeführter Somnambuler (also Schlafwandler) wird von seinem Meister, ebenjenem Dr. Caligari, mittels Hypnose (ein Motiv, dass sich auch bei der anderen zeitgenössischen Tyrannenfigur des deutschen Kinos, nämlich Mabuse, findet), zu Mordtaten bewegt.
Was aber bewegt Caligari? Sicher auch der Hass gegenüber dem System (im Film verkörpert durch den autoritären Stadtsekretär). Warum aber wird er selbst zur Autorität, manipuliert und lässt morden? Aus Wahn – und schlicht, weil er es kann. Dass es sich bei Caligari um einen selbst verrückt gewordenen, schließlich entlarvten Anstaltsdirektor handelt, wird von Kracauer als revolutionär gefeiert: „Vernunft überwältigt unvernünftige Gewalt, wahnwitzige Autorität wird symbolisch zur Abdankung gezwungen.“
Ein Happy End also? Mitnichten. Denn um diese Geschichte wurde – angeblich von Regisseur Robert Wiene entgegen dem Originaldrehbuch – eine Rahmenhandlung gebaut, die diese Aussage ins Gegenteil verkehrt: Ganz zum Schluss ist nämlich Franzis selbst der Insasse in der „Irrenanstalt“, der sich das Ganze scheinbar zusammenfantasiert hat. Mit der Umkehrung der Rolle des Wahnsinnigen und des Gesunden wird die ursprünglich bloßgestellte Autorität(ssucht) aber wieder stabilisiert, ja, laut Kracauer gar „verherrlicht“– und der Wahnsinn nimmt weiter seinen Lauf, bis zur Katastrophe.
Nun mag man diese Art Filmdeutung als etwas überspannt abtun, das Grundmotiv aber, die Seele, „die zwischen Tyrannei und Chaos hin und her gezerrt wird“, bleibt ein aktuelles. Oder ist es wieder. Wie erwähnt: Historische Parallel- sind oft Fehlschaltungen, das Deutschland der Zwischenkriegszeit ist ein anderes als das von heute. Doch wird mittlerweile auch wieder mit der Angst vor diesem Chaos Politik gemacht, sind zuletzt politischer und persönlicher Wahn wieder Thema geworden.
So hat der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland den Terror von Hanau sofort als Tat eines Wahnsinnigen abgetan – und unterschlägt darüber hinaus geflissentlich, dass es doch immer auch eine Frage der jeweiligen (Un)Kultur ist, auf was sich ein womöglich psychisch kranker Mensch bezieht. Und nicht nur von Gaulands Partei, sondern auch in den dunklen Echokammern des Internets gibt es da bekanntlich viele Bezugspunkte. Sind Teile des Netzes also jenes „Irrenhaus“, dessen Kulissen im Übrigen im Caligari entgegen der Außenwelt mit organischen, ja: viral anmutenden Formen bemalt sind?
Für Björn Höcke, der vor gut einer Woche in Dresden AfD-Kritiker der als geistig gestört bezeichnete, ist es gleich das komplette Land: Die Bundesrepublik sei ein „ganz besonderes Irrenhaus“, in dem die Patienten dächten, dass sie die Ärzte seien, so der Sprecher des völkischnationalen Flügels. Dabei will er nur der Direktor sein.
Am Ende des Caligari sieht man diesen in seiner Zweideutigkeit triumphieren, die Insassen hingegen trostlos auf und ab wandern – laut Kracauer „die Vereitelung aller Hoffnungen“.