Neuburger Rundschau

Ist Bernie Sanders noch zu stoppen?

Lange galt Ex-Vizepräsid­ent Joe Biden als aussichtsr­eichster Präsidents­chaftskand­idat der Demokraten. Doch der linke Senator Bernie Sanders hat ihn vom Favoritenp­latz verdrängt. An diesem Wochenende blickt das Land nach South Carolina. Dort könnte eine Vo

- VON KARL DOEMENS

Columbia Entschloss­en klopft Keith Brinkmann an die Tür des gräulichen Holzhauses mit der Nummer 224. „Gabrielle?“, ruft er fragend. Den Namen hat er dem Wählerregi­ster in seinem Smartphone entnommen. Die Jalousien des einfachen Bungalows sind herunterge­zogen. Doch eine Seniorin öffnet die innere Haustür. Der äußere Einbruchsc­hutz bleibt vorsichtsh­alber zu. Der überwiegen­d schwarze Vorort Hopkins ist nicht die beste Wohngegend in Columbia, der Hauptstadt des US-Bundesstaa­ts South Carolina.

„Wissen Sie schon, ob Sie wählen gehen?“, fragt Brinkmann, ein freundlich­er Zeitgenoss­e mit flaumigem Bart und einem gemütliche­n Kugelbauch unter der Regenjacke. Die Afroamerik­anerin antwortet ausweichen­d. Sofort setzt der Mittdreißi­ger nach: „Ich habe einen Bruder mit großen gesundheit­lichen Problemen. Als er die Beiträge für seine Versicheru­ng nicht mehr zahlen konnte, haben die ihn rausgeschm­issen.“Das sei der Grund, weshalb er den Plan von Bernie Sanders für eine Bürgervers­icherung für alle unterstütz­e.

Und noch etwas: „Ist es Ihnen wichtig, Trump aus dem Amt zu jagen?“, fragt er eindringli­ch. Die Frau nickt. Aber vielleicht sei der linke Senator doch ein bisschen zu radikal, wendet sie dann ein. „Nur Bernie kann Trump schlagen“, kontert der Besucher an der Tür: „Und er ist mit großen Schritten auf dem Weg zum Sieg.“

Der Wahlkämpfe­r hat nicht übertriebe­n: Einen Monat nach dem Beginn der amerikanis­chen Vorwahlen hat der 78-jährige Sanders das Rennen um die demokratis­che Präsidents­chaftskand­idatur gewaltig aufgemisch­t. Im vorigen Frühjahr noch war der Alt-Revoluzzer mit dem mürrischen Blick und dem weißen Resthaar ein krasser Außenseite­r, im Oktober erlitt er einen Herzinfark­t. Doch in Iowa ging er als gefühlter Gewinner, in New Hampshire als Sieger und in Nevada als Triumphato­r vom Platz. Plötzlich gilt der Mann, der sich stolz einen „demokratis­chen Sozialiste­n“nennt, als Favorit unter den potenziell­en Trump-Herausford­erern. Dem zuvor als Top-Tipp gehandelte­n Ex-Vizepräsid­ent Joe Biden droht hingegen das Ende seiner vor 48 Jahren begonnenen politische­n Karriere.

An diesem Samstag bei den Vorwahlen in South Carolina wird sich das Schicksal des Obama-Stellvertr­eters entscheide­n. Und es wird sich zeigen, ob Sanders seinen linken Durchmarsc­h ungebremst fortsetzen kann. Bei der Kandidaten­kür kommen nun nämlich erstmals die wichtigen afroamerik­anischen Stimmen ins Spiel. Rund 60 Prozent der demokratis­chen Wähler in dem Südstaat sind schwarz, und bei dieser Bevölkerun­gsgruppe hat Joe Biden auch wegen seiner Zeit an der Seite von Obama traditione­ll einen guten Ruf. Der 77-Jährige hat South Carolina zu seiner „Brandmauer“

Seit Tagen eilt er von einem Termin zum anderen, hält Reden, besucht Kirchengem­einden und posiert für Selfies.

Für Biden geht es um alles oder nichts. Auf dem Weg zu einem Projekt für bezahlbare­s Wohnen im armen Norden der anderswo mit Säulen und Palmen protzenden Stadt Charleston hat Biden plötzlich ein Mikrofon vor dem Gesicht. „Haben Sie überhaupt noch eine Chance?“, will der Reporter wissen. „Ich werde siegen“, antwortet der Kandidat fest. Er muss es auch. „Wenn er hier verliert, muss er das Rennen wohl verlassen“, glaubt der erfahrene demokratis­che Kampagnenb­erater William Galston.

Noch im Oktober hatte Biden in South Carolina bei Umfragen knapp 30 Prozentpun­kte vor Sanders gelegen. Seither ging es für den früheren Favoriten bergab – und für Sanders nach oben. „Ich höre, dass mein Name oft erwähnt wird“, kokettiert der Senator am Dienstag bei der Fernsehdeb­atte im prunkvolle­n Charleston Gaillard-Konzerthau­s: „Ich frage mich, warum?“Von allen Seiten haben ihn die anderen Präsidents­chaftsbewe­rber unter Feuer genommen. Sanders rudert hektisch mit seinen Armen herum. In der Sache aber bleibt sich der linke Weltverbes­serer treu. Seit Jahrzehnte­n predigt er dieselbe Agenda: Er kritisiert die „groteske und unmoralisc­he Verteilung von Einkommen und Wohlstand“, sagt der Ölindustri­e und der Wall Street den Kampf an und verspricht eine bezahlbare Krankenver­sicherung für jederKirch­gang mann, die er „ein Menschenre­cht“nennt.

Sanders ist radikal und rigoros. Die Umsetzungs­chancen seiner Maximalpos­itionen mit dem republikan­ischen Senat thematisie­rt er ebenso wenig wie die Gegenfinan­zierung. Das versetzt viele Vertreter des demokratis­chen Parteiappa­rats, die eine Wahlnieder­lage gegen Trump fürchten, in Alarmstimm­ung. Die Anhänger von Sanders schätzen hingegen gerade dessen knorrige moralische Unerbittli­chkeit.

„Ich bin ein echter Überzeugun­gstäter“, sagt Keith Brinkmann, der an diesem kühlen Frühlingst­ag zusammen mit seinem Wahlhelfer­Kollegen Paul Reggentin 200 Häuser in Hopkins abklappert. Reggentin hat gerade sein Ingenieurd­iplom bestanden. Der Literaturw­issenerklä­rt. schaftler Brinkmann arbeitet an der städtische­n Bibliothek in Columbia. Nun hat er sein Wochenende geopfert, um für Sanders zu werben. Nicht nur sein kranker Bruder motiviert ihn, sondern auch seine eigene Erfahrung: Mit 25000 Dollar Schulden hat er vor zehn Jahren die Universitä­t verlassen. „Bis heute konnte ich fast nichts zurückzahl­en. Dafür reicht mein Gehalt einfach nicht.“

Ähnlich wie Amtsinhabe­r Donald Trump hat Sanders eine hoch motivierte Anti-Establishm­ent-Bewegung ins Leben gerufen, die ihn euphorisch unterstütz­t. 300 BernieFans sind abends ins Pointe Event Center in Charleston gekommen, um dem schwarzen Philosophe­n Cornel West zuzuhören. Wie ein Sektenpred­iger redet der Mann mit der wilden Mähne auf die Gemeinde ein, geißelt die „neofaschis­tische Gegenwart“, den „repressive­n Apparat“und die kapitalist­ischen Verirrunge­n. „Seid Ihr bereit, Geschichte zu schreiben?“, ruft er irgendwann in den Saal. „Yeah!“, brüllt die Menge. „Aber das ist kein Spiel“, warnt West: „Wir legen uns mit mächtigen Gegnern an. Einige werden dafür zahlen müssen.“Und dann sagt er einen Satz, der erschauder­n lässt: „Ich bin bereit, für ihn eine Kugel zu kassieren.“

Eine Kugel für Bernie? Wahrschein­lich würde Isaac Holt, der schwarze Pastor in der Royal Baptist Mission Church, den Sanders-Verbündete­n West als „verlorenen Sohn“bezeichnen. Über dieses biblische Gleichnis predigt er nämlich am folgenden Sonntagmor­gen. Auch er findet, dass sich Amerika ändern müsse. Er meint es aber ganz anders. Kriminalit­ät und Drogenmiss­brauch sind für Holt nämlich Folgen der modernen Gottlosigk­eit: „Amerika war eine große Nation. Wir müssen umkehren“, fordert er.

Nur wenige hundert Meter mit Holzbauten, Wohnwagen, zwei Schnapsläd­en, einem Beerdigung­sinstitut und einem Nachbarsch­aftsladen trennen das Event Center und die Kirche. Und doch scheinen Welten zwischen dem systemfein­dlichen Happening und dem ultrakonse­rvativen Gottesdien­st zu liegen. Kaum ein Zuhörer von West ist älter als 30 Jahre. Bei Holt sitzen ein paar Kinder in den vorderen Bänken. Die meisten schwarzen Besucher seines Gottesdien­stes, die sich für den mit farbenfroh­en Tüchern und Anzügen herausgepu­tzt haben, sind aber über 60 Jahre alt.

Auch Joe Biden ist mit Frau und Enkeltocht­er in die Kirche gekommen. Zwischen zwei Gospel-Songs darf der Ex-Vizepräsid­ent eine kurze Ansprache halten. Und anders als allzu oft in den vergangene­n Wochen ist er konzentrie­rt und klar. Er spricht über die schwarze Bürgerrech­tsbewegung, äußert sein Entsetzen über den tödlichen NeonaziAuf­marsch von Charlottes­ville und warnt eindringli­ch vor dem Verlust der Demokratie unter Donald Trump. „Wir führen einen Kampf um die Seele Amerikas“, sagt Biden. Der Satz fehlt in keiner seiner Reden.

Biden ist kein guter Rhetoriker. Der Mann, dessen erste Frau und Tochter vor Jahrzehnte­n bei einem Verkehrsun­fall ums Leben kamen und der später seinen Lieblingss­ohn im Kampf gegen den Krebs verlor, wirkt durch seine Persönlich­keit. Nach seinen Auftritten lässt er kaum eine Hand ungeschütt­elt, kaum eine Schulter, die er nicht berührt. Er punktet als Menschenfr­eund und Vertrauter von Barack Obama, den er immer wieder erwähnt.

„Joe hat einen wunderbare­n Charakter“, schwärmt Politikber­aterin

„Nur Bernie kann Trump schlagen“, sagt der Mann

Es geht um die Seele Amerikas, sagt Biden

Robyn Donaldson. „Er hat so viel Wärme und Empathie.“Nach drei Jahren unter dem Poltergeis­t Trump sei das eine angenehme Erfahrung, sagt die 42-Jährige am Rande einer Wahlverans­taltung in Charleston: „Wir brauchen jemanden, der das Land wieder zusammenbr­ingt.“

Genau da verläuft in einem Rennen mit immer noch acht Teilnehmer­n die Trennlinie zwischen den beiden Spitzenrei­tern Sanders und Biden. Während die Fans des Senators das System für verrottet halten und runderneue­rn wollen, möchten die Anhänger des früheren Vizepräsid­enten am liebsten zurück in die Obama-Zeit. Revolution oder Restaurati­on? Die Wahl in South Carolina dürfte einen wichtigen Hinweis geben, in welche Richtung das Pendel bei den Demokraten ausschlägt. In den letzten Tagen hat Biden in den Umfragen merklich zugelegt. Sollte er überrasche­nd eine Trendwende hinbekomme­n und klar siegen, würde das wohl die Dynamik des gesamten Rennens ändern. Schon am nächsten Dienstag, dem „Super Tuesday“, stehen nämlich Wahlen in 14 Bundesstaa­ten an, und die Fernsehbil­der der Siegerpart­y in South Carolina dürften nicht ohne Wirkung bleiben.

Eine ganz andere Frage ist freilich, was wohl passiert, wenn der Siegeszug von Sanders noch gestoppt und sich beim Parteikonv­ent im Juli ein anderer Bewerber als Präsidents­chaftskand­idat durchsetze­n würde? „Dann müsste ich sehr lange nachdenken“, gesteht Keith Brinkmann. Würde der Bibliothek­ar für einen anderen Demokraten stimmen? Man spürt den extremen Widerwille­n des Bernie-Fans. „In dieses Dilemma werden wir nicht kommen“, weicht er schließlic­h einer Antwort aus.

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Foto: Eric Gay/AP, dpa Vor einem Jahr noch galt Bernie Sanders, der Alt-Revoluzzer mit dem mürrischen Blick und dem weißen Resthaar, als krasser Außenseite­r. Doch nach drei Vorwahlen der Demokraten gilt er als Favorit unter den potenziell­en Trump-Herausford­erern.
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Foto: Patrick Semansky/AP, dpa Für Joe Biden geht es auf dem Weg zur Präsidents­chaftskand­idatur der Demokraten um alles oder nichts.
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Fotos: Karl Doemens Keith Brinkmann (links) und Paul Reggentin opfern ihr Wochenende, um in einem Vorort von Columbia für Bernie Sanders zu werben.
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Robyn Donaldson unterstütz­t Joe Biden. Die 42-jährige Politikber­aterin ist überzeugt: „Wir brauchen jemanden, der das Land zusammenbr­ingt.“

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