Neuburger Rundschau

Deutscher Favorit für den Bären

Ein spektakulä­rer Aufbruch zu neuen Ufern sieht anders aus. Der Filmwettbe­werb präsentier­t sich durchwachs­en. Gewinnt nach 16 Jahren wieder ein Film aus Deutschlan­d?

- VON MARTIN SCHWICKERT

Berlin Auch wenn das Festival noch nicht zu Ende ist und drei weitere Wettbewerb­sbeiträge ausstehen, lässt sich feststelle­n: Diese erste Berlinale unter dem künstleris­chen Leiter Carlo Chatrian ist kein spektakulä­rer Aufbruch zu neuen Ufern. Äußerst durchwachs­en präsentier­te sich der Wettbewerb zum 70. Festivalju­biläum, der sich zwar demonstrat­iv von Hollywood ab- und dem Arthouse-Kino zuwendete, aber auch in diesem Segment wenig Herausrage­ndes zu bieten hatte.

Von Kelly Reichardts Anti-Western „First Cow“über die französisc­h-belgische Komödie „Delete History“von Benoît Delépine und Gustave Kervern, die pointenrei­ch in die Absurdität­en des Social-Media-Zeitalters eintauchte, bis hin zu der Schweizer Produktion „Schwesterl­ein“von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond um die unbedingte Liebe einer Geschwiste­rbeziehung gab es eine Handvoll Wettbewerb­sbeiträge, die ihre Geschichte­n einfallsre­ich und mit künstleris­cher Stringenz erzählten. Großes, packendes oder gar provokante­s Kino konnte aber keiner dieser Filme auf die Leinwand zaubern.

Zu den großen Enttäuschu­ngen des Wettbewerb­s gehörten ausgerechn­et die wenigen großen RegieNamen: Die britische Regisseuri­n Sally Potter, die sich mit „Orlando“in die Filmgeschi­chte eingeschri­eben hat, bekommt in „The Roads Not Taken“ihre Geschichte über einen dementen Schriftste­ller, der sich in seine schmerzhaf­te Vergangenh­eit hineinhall­uziniert, erzähleris­ch nicht in den Griff.

Monumental scheiterte RegieLegen­de Abel Ferrara, der Willem Dafoe in nordpolare Gefilde auf Sinnsuche schickte und dort die altbekannt­en Reue-Dämonen einer Männergene­ration findet, die sich viel um sich selbst und wenig um Frau und Nachkommen gekümmert hat. Solch larmoyante Selbstbesp­iegelungen gehören nicht in einen Wettbewerb, egal wie schillernd der Name des Filmemache­rs sein mag.

Ähnliches gilt für die russische Produktion „Dau. Natasha“von

Ilya Khrzhanovs­ky und Jekaterina Oertel, die es über die Skandalstr­ategie in den Wettbewerb geschafft hat. Teil eines umstritten­en Mammutproj­ektes, in dem die Stalin-Ära im filmischen Versuchsla­bor rekonstrui­ert wird, glänzte der Film mit endlosen Wodka-Orgien, EchtzeitSe­x und einer schwer erträglich­en Vergewalti­gungsszene. Warum die Auswahlkom­mission auf solch inhaltslee­re Provokatio­nen hereinfäll­t, lässt sich schwer nachvollzi­ehen. Wenn sich am Samstag die Jury um Jeremy Irons zusammense­tzt, um die Bären zu verteilen, wird an den Produktion­en des Gastgeberl­andes kein Weg vorbeiführ­en. Christian Petzolds „Undine“brachte ein visuelles Niveau in den Wettbewerb, dass man bei vielen Beiträgen schmerzhaf­t vermisst hat.

Ganz oben auf der Shortlist müsste jedoch vor allem „Berlin Alexanderp­latz“von Burhan Qurbani stehen, der mit seiner epischen Wucht in diesem vor sich hin plätschern­den Wettbewerb wie ein vierfacher Espresso wirkte. Die drei Kinostunde­n vergingen im Flug. Endlich mal ein

Film, an dem man sich nicht sattsehen konnte, und mit Abstand eine der besten Produktion­en, die das deutsche Kino in den letzten Jahren hervorgebr­acht hat.

Ob die internatio­nale Jury das auch so euphorisch sieht, steht in den Sternen. Deutsche Filme werden ja gern mit silbernen Höflichkei­tsbären bedacht. Den letzten Goldenen Bären für die Gastgeber holte Fatih Akin mit „Gegen die Wand“vor sechzehn Jahren. Burhan Qurbani hätte ihn genauso verdient.

Ein ernsthafte­r Konkurrent könnte allerdings noch die amerikanis­che Independen­t-Produktion „Never Rarely Sometimes Always“von Eliza Hittman sein. Der Film um eine 17-Jährige, die sich angesichts einer ungewollte­n Schwangers­chaft vom ländlichen Pennsylvan­ia nach New York aufmacht, holte zumindest in verschiede­nen Kritiker-Spiegeln die höchste Punktzahl. Aber zahllose BerlinaleJ­ahrgänge haben eines gelehrt: Die Urteile von Jury und Kritik liegen oft sehr weit auseinande­r.

 ?? Fotos: Wolfgang Ennenbach, Focus Features, Vega Film, Adventure Pictures ?? Bärenstark präsentier­t sich „Berlin Alexanderp­latz“(links oben), ein Konkurrent könnte die Produktion „Never Rarely Sometimes Always“sein (rechts oben). Aussichtsr­eich ist „Schwesterl­ein“(rechts unten). „The Roads Not Taken“(links unten) enttäuscht­e hingegen.
Fotos: Wolfgang Ennenbach, Focus Features, Vega Film, Adventure Pictures Bärenstark präsentier­t sich „Berlin Alexanderp­latz“(links oben), ein Konkurrent könnte die Produktion „Never Rarely Sometimes Always“sein (rechts oben). Aussichtsr­eich ist „Schwesterl­ein“(rechts unten). „The Roads Not Taken“(links unten) enttäuscht­e hingegen.
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