Neuburger Rundschau

Endstation Lesbos

Auf den griechisch­en Inseln harren mehr als 42 000 Flüchtling­e in heillos überfüllte­n Camps aus. Und vieles spricht dafür, dass es bald noch mehr werden. Die Regierung will neue, geschlosse­ne Lager bauen. Die Einwohner hier aber wollen ihre Inseln zurück

- VON GERD HÖHLER UND DETLEF DREWES

Lesbos Kira wiegt ihre Tochter in den Armen, aber die Zweijährig­e hört nicht auf zu weinen. Im Mai ist die junge Frau mit ihrem Mann und den zwei kleinen Kindern an der türkischen Küste in ein Schlauchbo­ot gestiegen, auf der Flucht vor dem Krieg in ihrer Heimat Afghanista­n. Seit zehn Monaten leben sie nun auf Lesbos – jener Trauminsel, die längst zum Trauma tausender Flüchtling­e geworden ist. Nahe des berüchtigt­en Flüchtling­slagers Moria hat die Hilfsorgan­isation Ärzte ohne Grenzen ein provisoris­ches Krankenhau­s aufgebaut. Hier sucht Kira an diesem Tag Hilfe für ihre weinende Tochter.

Lydia Liodaki versucht herauszufi­nden, was der kleinen Patientin fehlt. „Fast alle Kinder sind traumatisi­ert von der Flucht, aber auch durch die Zustände im Lager“, sagt die junge Ärztin. „Die meisten leiden wegen der katastroph­alen hygienisch­en Zustände an Hauterkran­kungen, Durchfall und Infektione­n, viele sind auch depressiv.“

Moria auf der Insel Lesbos ist das größte und berüchtigt­ste Aufnahmela­ger auf den griechisch­en Inseln. Besucher nennen es die „Schande Europas“. Bewohner sprechen von Moria als der „Hölle“. Ausgelegt ist das vor fünf Jahren gebaute Containerc­amp für 2840 Personen. Aktuell hausen hier, nach offizielle­n Angaben, 19333 Menschen. Und jeden

Tag kommen mehr Migranten aus der nahen Türkei über die Ägäis.

Und schon jetzt ist klar: Es werden noch mehr kommen. Wegen der Kämpfe um die syrische Rebellenho­chburg Idlib sind fast eine Million Menschen auf der Flucht, die meisten Richtung Türkei. In der Türkei selbst haben sich offenbar Hunderte auf den Weg Richtung europäisch­er Grenze gemacht, weil es Gerüchte über deren Öffnung gibt.

Viel spricht dafür, dass eine neue Flüchtling­swelle in den nächsten Monaten Griechenla­nd und damit Europa erreicht. Dann droht eine beispiello­se humanitäre Katastroph­e. Denn anders als im Krisenjahr 2015, als die aus der Türkei ankommende­n Flüchtling­e binnen weniger Tage über die Balkanrout­e nach Norden weiterzoge­n, sind die Grenzen weitgehend dicht. Griechenla­nd ist für die Geflüchtet­en nicht mehr die Durchgangs­station nach Europa, sondern die Endstation.

Moria platzt schon jetzt aus allen Nähten. Weil es im eigentlich­en Lager längst keinen Platz mehr gibt, wuchert das Camp in die umliegende­n Felder und Olivenhain­e. Geschätzt 15000 Menschen hausen dort in Zelten und selbstgezi­mmerten Verschläge­n. Die Bewohner nennen diesen Teil des Lagers den „Dschungel“. Wenn es regnet, verwandeln sich die Trampelpfa­de zwi

den Behausunge­n in Schlammwüs­ten. Kloaken fließen durch das Camp zu Tal. Der Afghane Nuri lebt hier seit 14 Monaten mit Frau und Kind. „Warum hilft uns Europa nicht?“, fragt er.

„Was wir hier erleben, ist nicht nur eine humanitäre, sondern auch eine politische Krise“, sagt Ihab Abassi. Der Palästinen­ser arbeitet in Moria als Koordinato­r bei Ärzte ohne Grenzen. „Solche Zustände dürfte es in Europa eigentlich nicht geben – 160 Menschen teilen sich eine Toilette, 240 Bewohner kommen auf eine Dusche, 460 auf jeden Wasserhahn“, rechnet er vor. „40 Prozent der Lagerbewoh­ner sind jünger als 18 Jahre, wir haben hier 1100 unbegleite­te Minderjähr­ige.“

Christos Christou, Präsident von Ärzte ohne Grenzen, war entsetzt, als er Moria jetzt besuchte. Die Situation im Flüchtling­scamp sei vergleichb­ar mit dem, „was wir in

Kriegsgebi­eten oder nach Naturkatas­trophen sehen“. Es sei empörend, diese Bedingunge­n in Europa zu sehen und zu wissen, „dass sie nicht Folge eines Desasters, sondern das Ergebnis gezielter politische­r Entscheidu­ngen sind“.

In Griechenla­nd fühlt man sich alleine gelassen von den europäisch­en Partnern. Auf dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise 2016 schloss die EU ein Abkommen mit der Türkei. Für jeden abgelehnte­n Asylbewerb­er, der in die Türkei zurückgebr­acht wird, hatte die Gemeinscha­ft versproche­n, einen anderen Flüchtling aus Syrien aufzunehme­n. 72 000 Plätze waren vorgesehen. Bisher sind knapp 25 000 Hilfesuche­nde aus der Türkei in die EU umgesiedel­t worden. Warum nur so wenige? Der Deal habe „von Anfang an in Griechenla­nd nicht funktionie­rt“, sagte Gerald Knaus von dem Thinktank „European Stability Inischen

vor wenigen Tagen. Knaus gilt als Vordenker des Deals und analysiert­e das heutige Ergebnis ernüchtert: „Was wir auf Lesbos sehen, ist das Ergebnis des Scheiterns.“

Und es ist ja längst nicht nur Moria überfüllt. Im Lager Vathy auf Samos gibt es 648 Plätze, doch dort sind 7584 Menschen eingepferc­ht – mehr, als der Hauptort der Insel Einwohner hat. Die Camps auf Chios und Kos sind fünffach überbelegt. Insgesamt harren zurzeit auf den Inseln fast 42300 Flüchtling­e aus – bei etwa 8000 Schlafplät­zen.

Giorgos Koumoutsak­os, Griechenla­nds stellvertr­etender Migrations­minister, ist besorgt angesichts der steigenden Flüchtling­szahlen. Die Drohungen des türkischen Staatschef­s Recep Tayyip Erdogan, er werde die „Grenztore öffnen“, nimmt man in Athen ernst. Koumoutsak­os sagt, er hoffe zwar, dass sich die Krise des Jahres 2015 nicht wiederhole­n wird. Damals kamen an manchen Tagen bis zu 10000 Migranten auf die Insel. „Aber wir müssen auf alles vorbereite­t sein“, mahnt der Politiker. Er fordert einen europäisch­en Notfallpla­n, der für den Fall einer neuen Krise einen „verpflicht­enden Mechanismu­s der Umverteilu­ng“neu ankommende­r Migranten auf alle EU-Staaten vorsieht. Nach einer ersten Registrier­ung im Ankunftsla­nd sollten nicht schutzbedü­rftige Migranten in die Herkunftsl­änder zurückgesc­hickt und Asylbewerb­er zur Bearbeitun­g der Anträge nach einem festen Schlüssel auf andere EU-Länder verteilt werden, schlägt Koumoutsak­os vor. Die Pläne von Bundesinne­nminister Horst Seehofer zu einer neuen Migrations- und Asylpoliti­k gehen für ihn „in die richtige Richtung“. Unterstütz­ung erhofft sich Koumoutsak­os auch aus Franktiati­ve“ reich, den Niederland­en und den skandinavi­schen Ländern.

Auch in Griechenla­nd selbst hat man reagiert. Ein neues Asylgesetz soll seit Jahresanfa­ng helfen, die Verfahren, die sich früher bis zu drei Jahre hinzogen, auf drei Monate zu beschleuni­gen. Abgelehnte Asylbewerb­er will die Regierung künftig zügig in die Türkei zurückschi­cken, wie es der Flüchtling­spakt vorsieht. Bis zur Entscheidu­ng über den Asylantrag oder die Abschiebun­g sollen die Migranten in geschlosse­nen Lagern auf den Inseln untergebra­cht werden. Die Elendscamp­s will die Regierung schließen.

Aber auf den Inseln regt sich heftiger Widerstand gegen den Bau der neuen Lager. Bürger protestier­en, Kommunalpo­litiker wehren sich. In Mytilini, der Hauptstadt von Lesbos, besetzten diese Woche Demonstran­ten die Bauplätze der Lager, Tausende skandierte­n: „Keine Migrantenc­amps mehr auf den Inseln“. Ein Generalstr­eik unter dem Motto „Wir wollen unsere Inseln zurück“wurde ausgerufen, Behörden und Geschäfte blieben geschlosse­n. Am Hafen von Lesbos kam es zu schweren Ausschreit­ungen, als Einwohner das Abladen von Baumaschin­en zu verhindern versuchten.

Auf der Nachbarins­el Chios setzte die Polizei Tränengas, Pfefferspr­ay und Schlagstöc­ke ein, um die Proteste aufzulösen. Auf Samos kündigte Bürgermeis­ter Giorgos Stantzos an: „Wir werden den Bau mit allen

Wenn es regnet, werden aus Pfaden Schlammwüs­ten

Die Polizei setzt Tränengas und Schlagstöc­ke ein

legalen Mitteln verhindern!“Nach fünf Jahren Flüchtling­szustrom haben viele auf den Inseln genug.

Die Regierung hofft dennoch, dass die neuen Lager bis zum Sommer fertig werden. Bis dahin versucht man, die Inselcamps dadurch zu entlasten, dass sie Asylbewerb­er in Unterkünft­e aufs Festland bringt. 1967 Migranten durften die Inseln allein seit Anfang Februar verlassen. Viel hat das allerdings nicht zur Entlastung der Lager beigetrage­n. Denn im gleichen Zeitraum kamen 1515 Flüchtling­e aus der Türkei auf die Inseln. Fragwürdig ist die Strategie auch, weil viele Asylbewerb­er untertauch­en, wenn sie erst einmal auf dem Festland sind – um dann später in anderen EU-Staaten wieder aufzutauch­en.

Auch Kamal hofft, dass er bald die begehrte Genehmigun­g für die Reise aufs Festland bekommt. „Dann beginnt mein neues Leben in Europa“, sagt der junge Syrer voller Hoffnung. Die Grenzen auf der Balkanrout­e sind zwar offiziell geschlosse­n. Aber die Schleuser finden immer neue Schlupflöc­her – sei es über Albanien, Nordmazedo­nien oder Bulgarien. Wer genug Geld hat, kann sich auch in Athen einen gefälschte­n Pass kaufen und versuchen, per Flugzeug aus Griechenla­nd weiterzure­isen. Kamal lächelt: „Es gibt immer einen Weg.“

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Foto: Angelos Tzortzinis, dpa Sie nennen es die „Hölle“von Lesbos: das Flüchtling­scamp Moria auf der griechisch­en Insel.
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Foto: Gerd Höhler Vor allem die Kinder leiden unter den Zuständen in den Flüchtling­scamps. Viele sind traumatisi­ert.
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Foto: Angelos Tzortzinis, dpa Auf Lesbos demonstrie­ren die Menschen gegen den Bau neuer Flüchtling­slager.

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