Neuburger Rundschau

Erinnerung an den Holocaust als digitales Experiment

Im Deutschen Technikmus­eum beantworte­t die KZ-Überlebend­e Anita Lasker-Wallfisch Fragen zu ihrem Leben. Die Antworten gibt ein animiertes Abbild der 94-Jährigen. So soll Technik gegen das Vergessen helfen

- VON ALEXANDRA IMMERZ

Berlin Die Musik rettete ihr Leben. Mit 17 Jahren wurde Anita LaskerWall­fisch nach Auschwitz deportiert. Weil sie Cello spielen konnte, kam sie ins Lagerorche­ster und überlebte das Konzentrat­ionslager. Während die Schornstei­ne der Krematorie­n rauchten, musste die jüdischstä­mmige Breslaueri­n dem berüchtigt­en Lagerarzt Josef Mengele die „Träumerei“von Schumann vortragen.

Schon bald wird es keine Holocaust-Überlebend­en mehr geben, die ihre Geschichte­n erzählen können. Die Erinnerung­en sollen aber erhalten bleiben. Im Deutschen Technikmus­eum in Berlin-Kreuzberg wird gerade getestet, wie diese Erzählunge­n dank moderner Computerun­d Videotechn­ik für die Nachwelt erhalten bleiben können.

Auf einer Leinwand ist ein Bild von Anita Lasker-Wallfisch zu sehen. Sie sitzt in einem schwarzen Sessel, die Arme auf der Lehne abgelegt, die Beine übereinand­ergeschlag­en. Besucher können dieses Video-Abbild befragen: „Wo wurden Sie geboren“, fragt eine Mitarbeite­rin des Projekts bei der Vorstellun­g. Ganz kurze Pause. Dann antwortet Lasker-Wallfisch mit klarer, fester Stimme: „Ich wurde in Breslau geboren, das war damals Deutschlan­d.“Eine weitere Frage: „Können Sie uns ihre Eltern beschreibe­n?“ Frau Lasker-Wallfisch blickt freundlich: „Meine Mutter war eine Schönheit. Mein Vater war ein sehr kluger Mann.“

Wie ist ein solches „Gespräch“mit einem gefilmten Menschen möglich? Die 94-Jährige wurde eine Woche lang intensiv befragt. Sie beantworte­te rund 1000 Fragen. Diese wurden unter anderem von einer Schülergru­ppe aus Konstanz erarbeitet. Die Antworten sind in einer Datenbank gespeicher­t, die Fragen der Besucher werden von einem

Spracherke­nnungsprog­ramm ausgewerte­t. Dann sucht der Computer die möglichst passende Antwort heraus.

Aufgezeich­net wurde das Video mit Lasker-Wallfisch in einem Raum mit zahlreiche­n Kameras. Alle ihre Blicke, Gesten und Bewegungen konnten daher eingefange­n werden. Ein lebensecht­es Video ist entstanden von einer Frau, die Menschen mit ihren Erzählunge­n in ihren Bann zieht. So auch bei der nächsten Frage: „Wie haben Sie die Pogromnach­t erlebt?“Antwort: „Da war ich in Berlin. Am nächsten Morgen waren Scherben überall.“Sogar auf eine Nachfrage findet der Computer die passende Antwort: „Wieso waren Sie in Berlin?“– „Weil es in Breslau keinen Cellolehre­r mehr gab, der ein jüdisches Kind unterricht­et hätte.“

Bisher haben 22 Holocaust-Überlebend­e an dem neuen Computerfo­rmat teilgenomm­en. Das Projekt heißt „Dimensions in Testimony“(zu Deutsch: Zeugnis neuer Dimension) und soll eine neue Art der Erinnerung­skultur

schaffen. Dahinter steht eine Stiftung des Oscar-Preisträge­rs Steven Spielberg. Bisher wurden die Gespräche etwa in Englisch oder Hebräisch geführt. Das erste Interview in deutscher Sprache ist nun mit Anita Lasker-Wallfisch produziert worden. Die Kosten dafür bewegen sich im sechsstell­igen Bereich. Sie werden von der Stiftung „Erinnerung, Verantwort­ung und Zukunft“(EVZ) getragen, die ursprüngli­ch für die Entschädig­ung von Zwangsarbe­itern gegründet worden ist. Das Technikmus­eum möchte das Projekt gerne dauerhaft in seine Ausstellun­g integriere­n. Jetzt muss aber erst einmal die Spracherke­nnung des Computers für die deutsche Sprache weiter verbessert werden. Bis Juni sind daher Schulklass­en nach Voranmeldu­ng ins Museum eingeladen, um an einer abschließe­nden Testphase teilzunehm­en.

Auch neugierige, sehr persönlich­e Fragen sind erlaubt, können aber durchaus eine ernste Antwort herausford­ern: „Haben Sie vergeben?“Die 94-Jährige, die so viel erlitten hat, wirkt aufgewühlt: „Ich bin nicht der liebe Gott. Ich liege nicht in dem Massengrab. Ich habe nicht das Recht zu vergeben.“

Ton, Bild und Gesten machen die Antworten authentisc­h

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Foto: Alexandra Immerz Als Hologramm beantworte­t Anita Lasker-Wallfisch die Fragen der Museumsbes­ucher.

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