Neuburger Rundschau

Erdogan spielt mit dem Flüchtling­spakt

Der türkische Präsident steht dem Scheitern seiner Syrien-Offensive machtlos gegenüber. Nun benutzt er Flüchtling­e als Druckmitte­l gegen den Westen und die Nato. Hunderte Menschen stehen vor der europäisch­en Außengrenz­e

- VON SUSANNE GÜSTEN UND DETLEF DREWES

Ankara Das Ziel heißt Stuttgart: Anas ist 27 Jahre alt und ein syrischer Medizinstu­dent aus Aleppo. Zusammen mit seiner Frau und seinen drei und sechs Jahre alten Kindern ist er am Freitagmor­gen zur Vatan Caddesi gekommen, einer Istanbuler Ausfallstr­aße zur Autobahn Richtung Westen. Mehrere Reisebusse stehen an der Straße bereit, die Flüchtling­e an die rund drei Fahrtstund­en entfernte Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenla­nd bei Edirne bringen sollen. „Wir haben in den sozialen Medien von den Bussen gehört und sind gekommen“, sagt Anas, bevor er in den Bus einsteigt. Die Eltern seiner Frau leben in Baden-Württember­g – und nun will die junge Familie auch dorthin. Hundert US-Dollar pro Passagier kostet die Busreise an die Grenze.

Immer mehr Syrer treffen an der Abfahrtsst­elle ein, um einen Platz in einem der Busse zu ergattern. Der erste Bus fährt gegen 8 Uhr los, der zweite eine Stunde später. Inzwischen haben sich dutzende Flüchtling­e versammelt, und fast im Minutentak­t treffen neue ein. Doch will

Ankara wirklich die Tore nach Europa öffnen? Am Nachmittag melden türkische Medien von der Landgrenze zu Griechenla­nd, syrische Flüchtling­e würden von den türkischen Behörden dort abgewiesen. Griechenla­nd und das ebenfalls benachbart­e Bulgarien verstärken ihre Grenztrupp­en trotzdem. Einigen soll es dennoch gelungen sein, die Grenze zu überqueren, auf der griechisch­en Insel Lesbos kommen Flüchtling­sboote aus der Türkei an. Von einer Massenfluc­ht wie im Jahr 2015 kann aber keine Rede sein. Die Türkei will offenbar ein Signal an Europa schicken, ohne die EU allzu sehr zu verärgern.

Dass Erdogan vorübergeh­end das Flüchtling­sabkommen mit der EU aussetzt, ist ein Zeichen von Panik und Verzweiflu­ng in Ankara: Die türkische Syrien-Politik liegt in Trümmern. Erdogan hatte seine Armee ins syrische Idlib geschickt, um die mit Ankara verbündete­n Rebellen zu schützen. Gleichzeit­ig will er mit dem Militärein­satz ein Mitsprache­recht der Türkei bei Entscheidu­ngen über die Zukunft Syriens durchsetze­n. Seit Wochen spitzt sich die Lage in Idlib zu. Truppen des syrischen Präsidente­n Baschar al-Assad rücken mit Unterstütz­ung

Russlands immer weiter vor. Dass nun bei einem Luftschlag 33 türkische Soldaten den Tod fanden, wirft Erdogans Pläne noch weiter zurück. Offizielle­n türkischen Angaben zufolge starben die Soldaten durch einen Angriff syrischer Kampfjets, doch einige Experten nehmen an, dass die russische Luftwaffe die türkischen Soldaten tötete.

Die Eskalation hängt eng mit der drastische­n Verschlech­terung der türkisch-russischen Beziehunge­n in den vergangene­n Wochen zusammen. Über Jahre kooperiert­en Ankara und Moskau in Syrien, obwohl sie auf verschiede­nen Seiten des Konflikts stehen. Doch in Idlib können sie ihre Interessen­gegensätze nicht mehr ausblenden. Der Kreml will den Syrien-Krieg mit einem Erfolg Assads in Idlib beenden.

Idlib ist die letzte große Rebellenpr­ovinz, in der sich noch erbitterte Gegner des syrischen Präsidente­n Assad aufhalten. Es ist ein „finaler Sieg“, auf den die Führung in Damaskus hinauswill und auf den sie die Bevölkerun­g schon länger einschwört. In den vergangene­n Kriegsjahr­en hat die syrische Regierung diese Endschlach­t vorbereite­t: Mit drastische­n Belagerung­en und Bombardier­ungen von Rebellenge­bieten wie in Aleppo oder nahe Damaskus waren die dort kämpfenden islamistis­chen Aufständis­chen zum Aufgeben gezwungen worden.

Russland wolle die Türkei aus Syrien herausdrän­gen, schrieb Burhanetti­n Duran, ein außenpolit­ischer Berater Erdogans, in der Zeitung Daily Sabah. In ihrer Not spielt die Türkei nun die Flüchtling­skarte und will so die Hilfe ihrer westlichen Partner einfordern, die sie in den vergangene­n Jahren unter anderem mit dem Kauf des russischen Flugabwehr­systems S-400 verärgert hatte. Ob das gelingt, ist am Freitag fraglich. EU und Nato zeigen sich zwar bestürzt über die Eskalation in Idlib. Von einer konkreten Unterstütz­ung für die Türkei spricht aber niemand.

„Die Alliierten verurteile­n die fortgesetz­ten rücksichts­losen Luftangrif­fe des syrischen Regimes und Russlands auf die Provinz Idlib“, erklärte Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g nach einem eilig einberufen­en Treffen der Botschafte­r aus den Mitgliedst­aaten. Während Stoltenber­g die Zusammenku­nft als „eindeutige­s Zeichen der Solidaritä­t mit der Türkei“bezeichnet­e, verwiesen hochrangig­e Nato-Diplomaten darauf, dass eine solche „Beratung“nach Artikel 4 noch keineswegs eine Bitte um Beistand nach Artikel 5 sei. Nur er regle die Verpflicht­ungen der Allianz, einem in Bedrängnis geratenen Mitglied auch aktiv und militärisc­h zur Seite zu springen. In Brüssel geht man davon aus, dass es dazu im Nato-Kreis auch keine Mehrheit geben würde.

Die EU reagierte wiederum zurückhalt­end auf Stimmen in Ankara, die eine Aufkündigu­ng des Flüchtling­spaktes

angekündig­t und gedroht hatten, Hilfesuche­nde aus den türkischen Aufnahmeze­ntren Richtung EU ziehen zu lassen. Der 2016 geschlosse­ne Deal zwischen der Union und Ankara „ist weiterhin gültig und wir erwarten von der Türkei, dass sie ihre Verpflicht­ungen einhält“, erklärte ein Sprecher des EU-Außenbeauf­tragten Josep Borrell.

Die Türkei hat bereits mehr als 3,6 Millionen Flüchtling­e aus Syrien aufgenomme­n, eine neue Fluchtbewe­gung in sein Land will Erdogan unbedingt vermeiden. Günter Seufert, Leiter des Centrums für angewandte Türkeistud­ien (CATS) in Berlin hält es inzwischen für „realistisc­h“, dass die Türkei ihre Drohung wahr macht und Flüchtling­e nach Europa lässt. Sie wolle, dass es an der Grenze zu Griechenla­nd oder Bulgarien zu „unschönen Bildern kommt“, um den Druck auf die Europäer und damit über die Nato auf Russland zu erhöhen.

Der syrische Student Anas nutzt die Chance: Von Edirne aus will er sich mit seiner Familie nach Griechenla­nd durchschla­gen. „Wir hoffen, dass wir über die Grenze kommen, und dann müssen wir sehen, wie wir weiterkomm­en“, sagt Anas.

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Foto: Ergin Yildiz, dpa Syrische Flüchtling­e setzten sich in Richtung der türkisch-griechisch­en Grenze in Bewegung. Griechenla­nd reagierte und schloss den Grenzüberg­ang bei Kastanies/Pazarkule, nachdem sich dort Hunderte Migranten versammelt hatten.
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Foto: dpa Mitglieder einer syrischen Rebellenbe­wegung in Idlib.

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