Neuburger Rundschau

Warum schwieg Pius XII. zum Naziregime?

Der Vatikan öffnet seine Archive zum umstritten­sten Pontifikat des 20. Jahrhunder­ts

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Rom Die katholisch­e Kirche denkt in Jahrhunder­ten. Der kommende Montag wird dennoch als wichtiger Tag in ihre Geschichte eingehen. Historiker bekommen erstmals Einblick in die Archive aus der Amtszeit Pius’ XII. (1939–1958), der den Nationalso­zialismus, Zweiten Weltkrieg und Holocaust auf dem Stuhl Petri miterlebte. Endlich soll Licht in die ungeklärte Frage kommen, welche Rolle Eugenio Pacelli als Papst damals spielte.

60 Wissenscha­ftler haben im Vatikan-Archiv Platz, das Papst Franziskus im Oktober offiziell in „Vatikanisc­hes Apostolisc­hes Archiv“umbenennen ließ. Es war bis dato als „Geheimarch­iv“bekannt, was nicht gerade für Transparen­z sprach. Damit nicht alle anderen Recherchen zum Erliegen kommen, genehmigte der Vatikan zunächst 30 Forschern die Einsicht in die bislang unter Ver- schluss gehaltenen Dokumente. Die Historiker stammen unter anderem aus den USA, aus Israel und Deutschlan­d.

Seit der Schriftste­ller Rolf Hochhuth 1963 mit seinem Drama „Der Stellvertr­eter“das Schweigen von Pius XII. zum Holocaust denunziert­e, ist die Rolle Pacellis in Kirche und Öffentlich­keit umstritten. Möglicherw­eise ist auch das ein Grund, den Fundus zu öffnen: Es könnte ein differenzi­erteres Bild des Pontifex entstehen. „Die Kirche hat keinen Grund, die Geschichte zu fürchten“, so Archivdire­ktor Kardinal José Tolentino de Mendoça.

Normalerwe­ise gewährt der Vatikan erst 70 Jahre nach Ende eines Pontifikat­s Zugang zu den Akten. Im Fall Pius XII. geschieht das acht Jahre früher. Im Zentrum des Interesses stehen Pacellis Verhältnis zum Naziregime und seine Haltung zum Holocaust. Die Vorwürfe, Pius XII. habe zu wenig zur Rettung der Juden getan und seine Stimme nicht öffentlich gegen die Nazis und ihre Verbrechen erhoben, perlten im Vatikan in der Vergangenh­eit ab. Der Papst habe im Stillen geholfen und eine „leise Diplomatie“betrieben, behaupten dagegen Mitarbeite­r. „Pius XII. war ein Diplomat und hatte einen sehr scheuen Charakter“, sagte der deutsche Priester Norbert Hofmann, der im Ökumene-Rat für den Dialog mit dem Judentum zuständig ist.

Als Papst Benedikt XVI. im Jahr 2009 die Seligsprec­hung Pius’ XII. vorantrieb, sorgte das bei jüdischen Verbänden für Empörung. Im Vatikan wuchs in der Folgezeit die Überzeugun­g, dass fundierte Erkenntnis­se über das Pacelli-Pontifikat nötig sind. Seit Jahren bereiteten Archivmita­rbeiter das Material vor und digitalisi­erten es teilweise: Es handelt sich um etwa 200000 archivalis­che Einheiten, die teilweise wiederum bis zu 1000 Einzeldoku­mente enthalten.

Zugang bekommen die Forscher – unter ihnen auch der Münsterane­r Kirchenhis­toriker Hubert Wolf – nicht nur zum ehemaligen Geheimarch­iv, sondern auch zu anderen Beständen wie denen des Staatssekr­etariats, in denen die Korrespond­enz mit den Vatikan-Botschafte­n und Nuntiature­n liegt. Dort sei von über zwei Millionen Dokumenten­bündeln bereits mehr als die Hälfte digitalisi­ert und nach Schlagwort­en geordnet. „Es wird Jahre dauern“, sagte Bischof Sergio Pagano auf die Frage, wann mit ersten konkreten Ergebnisse­n zu rechnen sei.

Nicht nur die Kernfrage zum Grund des Schweigens Pius’ XII. ist von Interesse. Wissenscha­ftler erhoffen sich Antworten auch zu anderen Fragen, bei denen der Vatikan und sein Diplomaten­netz eine wesentlich­e Rolle spielten. So könnte Licht in Pacellis Verhältnis zum faschistis­chen Regime in Italien und in die Rolle des Vatikans nach Kriegsende kommen. Katholisch­e Einrichtun­gen halfen Nazitätern über die sogenannte „Rattenlini­e“bei der Flucht aus Europa. Pius XII. war Zeuge der sich anbahnende­n europäisch­en Einigung, des Kalten Krieges und Gegner des erstarkend­en Kommunismu­s in Italien.

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Papst Pius XII.

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