Neuburger Rundschau

Deutschlan­d öffnet seinen Arbeitsmar­kt für die Welt

Am Sonntag tritt das Fachkräfte-Einwanderu­ngsgesetz in Kraft. Tausende Menschen von außerhalb der EU soll es anlocken. Trotz Konjunktur­schwäche und Virus-Krise sind sich Experten einig: Das wird nicht reichen

- VON CHRISTIAN GRIMM UND MATTHIAS ZIMMERMANN

Berlin/Augsburg Deutschlan­d ein Rentnerlan­d. In den nächsten zehn Jahren werden sich Millionen Menschen nach einem langen Arbeitsleb­en in den Ruhestand verabschie­den. Und es folgen ihnen zu wenige nach. Der Bedarf der größten Wirtschaft­smaschine Europas kann auch durch den Zuzug von Arbeitnehm­ern aus anderen EU-Ländern nicht mehr gedeckt werden. Darum dürfen ab Sonntag Fachkräfte aus der ganzen Welt nach Deutschlan­d kommen: Elektriker, Köchinnen, Lokführer, Metallbaue­r und Pflegerinn­en. Wer eine Berufsausb­ildung hat, Deutsch spricht und für sich sorgen kann, ist willkommen. Eine Vorrangprü­fung, bei der vor jeder Einstellun­g festgestel­lt werden muss, ob auch ein deutscher oder EU-Bürger die Qualifikat­ion erfüllt, gibt es dann nicht mehr.

„Das ist im Sinne der deutschen Wirtschaft, die schon längst zu spüren bekommt, dass der Bedarf allein mit inländisch­en Fachkräfte­n nicht mehr gedeckt werden kann“, sagte Arbeitgebe­rpräsident Ingo Kramer unserer Redaktion. Kramer hat lange für diese Öffnung des Arbeitsmar­ktes geworben. Ein halbes Jahr haben die Neuankömml­inge Zeit, sich irgendwo zwischen Flensburg und Garmisch eine Stelle zu suchen. Bisher war das nur Studierten vorbehalte­n, weil ihnen mehr Aussicht auf Erfolg zugesproch­en wurde. Allerdings muss die Ausbildung mit den deutschen Standards mithalten können. Eine Ausnahme davon gilt für Computerfa­chleute, weil bei denen die Not besonders groß ist.

Wie groß der Andrang ausländisc­her Fachkräfte sein wird, bleibt abzuwarten. „Wir müssen uns anstrengen. Die werden uns nicht die Bude einrennen“, erklärte neulich Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil. Der SPD-Politiker rechnet mit 25000 Fachkräfte­n pro Jahr. Aber auch die Nachfrage geht wegen der schwächeln­den Konjunktur und der wachsenden Unsicherhe­it durch die Ausbreitun­g des Coronaviru­s spürbar zurück. Ramona Meinzer ist Geschäftsf­ührerin bei Aumüller Aumatic GmbH in Thierhaupt­en im Landkreis Augsburg. Die Firma automatisi­ert Haustechni­k und ist in vielerlei Hinsicht ganz typisch für die Region: mittelstän­disch geprägt, stark internatio­nal ausgericht­et – und in jüngster Zeit enorm erfolgreic­h. Sie sagt: „In den vergangene­n sechs Wochen hat sich die Lage für uns komplett gedreht. Wir können uns derzeit vor Bewerbunge­n kaum retten.“Darunter seien sehr viele hoch qualifizie­rte Bewerber, die oft einen Hintergrun­d in der Automobilo­der Zulieferer­branche hätten. Sogar drei Software-Entwickler hat Meinzer gerade eingestell­t. „Früher wäre das undenkbar gewesen“, sagt sie. Aus ihrem Engagement bei diversen Arbeitnehm­erorganisa­tionen wisse sie, dass ihre Beobachtun­g kein Einzelfall sei.

Das deckt sich mit den aktuellen Zahlen der Agentur für Arbeit. In den ersten beiden Monaten des Jahres wurden Arbeitsage­nturen und Jobcentern in Bayern rund 50000 neue offene Stellen gemeldet. Das sind 16,4 Prozent weniger als vor einem Jahr. Aber: Bis eine offene Stelle besetzt ist, dauert es im Schnitt noch immer 136 Tage. 2015 waren es noch 92 Tage. Die Lage ist je nach Branche sehr unterschie­dlich, und trotz des Rückgangs der Nachfrage im produziere­nden Gewerbe werden etwa Computersp­ezialisten nach wie vor händeringe­nd gesucht. Darum sollen nun Werbekampa­gnen und Deutschkur­se auf der ganzen Welt darauf aufmerksam machen, dass es in Deutschlan­d viel Arbeit gibt. Dafür eingespann­t werden auch Botschafte­n und Konsulate. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) fuhr nach Mexiko und in das Kosovo, um für die Chancen in der Pflegebran­che zu werben. Die Arbeitsage­ntur hat eine Beratungss­telle eingericht­et, deren Mitarbeite­r am Telefon oder Mail die Anfrage der Interessen­ten beantworte­n.

Die Wirtschaft ist dennoch nicht zufrieden. „Hier liegt noch einiges im Argen“, kritisiert Arbeitgebe­rchef Kramer. Er beklagt, dass sich die beteiligte­n Behörden nicht richtig miteinande­r austauscht­en und es nicht genügend Personal in VisaStelle­n und Ausländerä­mtern gebe. „Warum sollte eine Fachkraft mehrere Monate oder teilweise bis zu einem Jahr auf einen Termin bei einer deutschen Botschaft warten, wenn sie auch nach Holland oder in die Schweiz gehen kann? Das darf uns nicht passieren“, betont Kramer.

Nach Berechnung­en des Instituts für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) und der Bertelsman­n Stiftung braucht Deutschlan­d in den kommenden 40 Jahren jährlich netto 260000 Einwandere­r, um den Personalbe­darf zu decken. Schwaben ist besonders betroffen. Laut einer aktuellen Umfrage der IHK Schwaben haben mehr als die Hälfte der Betriebe hier offene Stellen, die sie seit längerer Zeit nicht besetzen können. Umso gravierend­er ist es, dass die Hochschule­n an Kapazitäts­engpässen leiden. „Wer jetzt nach Berlin geht, weil er hier keinen Studienpla­tz kriegt, der kommt in fünf Jahren nicht wieder“, sagt Meinzer.

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