Neuburger Rundschau

Was wusste Ratzinger?

Ein neues Gutachten über den Umgang mit Missbrauch­sfällen soll auch die Rolle des früheren Münchner Erzbischof­s untersuche­n. Der ist inzwischen emeritiert­er Papst

- VON DANIEL WIRSCHING

München Was wusste Joseph Ratzinger, der inzwischen emeritiert­e Papst Benedikt XVI., von Missbrauch­sfällen zu seiner Zeit als Münchner Erzbischof? Wie ging er mit ihnen um? Welche Verantwort­ung, welche Schuld hat er möglicherw­eise zu tragen?

Es sind Fragen, zu denen seit Jahren recherchie­rt und über die seit Jahren spekuliert wird. Und auf die es in absehbarer Zeit Antworten geben könnte. Das zumindest lässt die Ankündigun­g des Erzbistums München und Freising vom Donnerstag erwarten: Das Erzbistum hat bei der Münchner Kanzlei „Westpfahl Spilker Wastl“ein neues Gutachten in Auftrag gegeben, um Missbrauch­sfälle im Zeitraum von 1945 bis 2019 untersuche­n zu lassen.

Das Spektakulä­re an der Ankündigun­g ist der folgende Satz: „Der Bericht soll veröffentl­icht werden und benennen, ob die Verantwort­lichen rechtliche Vorgaben sowie die Leitlinien der Deutschen Bischofsko­nferenz

erfüllten und angemessen im Umgang mit Verdachtsf­ällen und möglichen Tätern handelten.“Mit der Einschränk­ung: Die Veröffentl­ichung des Berichts müsse die Vorgaben des Datenschut­zes erfüllen.

Das neue Gutachten soll auf einem Gutachten aufbauen, das dieselbe Anwaltskan­zlei 2010 erstellt hatte. Der damalige 250 Seiten starke Bericht wurde, trotz aller Transparen­z-Beteuerung­en vonseiten der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d, zu einem ihrer größten Geheimniss­e. Er wurde nie veröffentl­icht, aus „Datenschut­zgründen“. Wegen der Rolle Ratzingers?

Die überrasche­nde Ankündigun­g eines neuen Gutachtens fällt in eine Zeit, in der sich die Kirche im Umbruch befindet. Die deutschen Bischöfe sind in Reformfrag­en sowie in Fragen des Umgangs mit dem anhaltende­n Missbrauch­sskandal heillos zerstritte­n und stehen vor der Wahl eines neuen Vorsitzend­en der Deutschen Bischofsko­nferenz am 3. März. Ihr bisheriger Vorsitzend­er, der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx, hatte kürzlich – ebenfalls völlig überrasche­nd – erklärt, nicht für eine Wiederwahl zur Verfügung zu stehen. In dem neuen Gutachten steckt also jede Menge Umso mehr, wenn man sich die Hauptbefun­de des Gutachtens von 2010 vergegenwä­rtigt.

Das befasste sich im Auftrag des Erzbistums München und Freising mit sexuellen und „sonstigen“körperlich­en Übergriffe­n durch Priester, Diakone und pastorale Mitarbeite­r, es ging um die Jahre 1945 bis 2009. Vorgestell­t wurde es am 3. Dezember 2010 von Rechtsanwä­ltin Marion Westpfahl.

Und die kam zu einem vernichten­den Urteil: „Wir haben es mit umfangreic­hen Aktenverni­chtungsakt­ionen zu tun“, sagte sie. Westpfahl sprach von systematis­cher Vertuschun­g, von „vollständi­ger Nichtwahrn­ehmung der Opfer“und einem „rücksichts­losen Schutz des eigenen Standes“. Zur massiven „Aufklärung­sverhinder­ung“habe das Erpressung­spotenzial beigetrage­n, dem homosexuel­l veranlagte Kleriker – auch höherrangi­ge im Verwaltung­sapparat des Erzbistums, dem Ordinariat – ausgesetzt seien. Ihr Ergebnis laut achtseitig­er Zusammenfa­ssung der „Kernaussag­en des Gutachtens“und laut ihrer Aussagen in der Pressekonf­erenz damals: Nach Sichtung von etwa 13 200 Akten wurden in 365 Akten Hinweise auf ein „wie immer geartetes Missbrauch­sgeschehen“festgestel­lt, 159 Priester seien „einschlägi­g auffällig“geworden – doch die tatsächlic­he Zahl liege wahrschein­lich „wesentlich höher“. Wegen Sexualdeli­kten seien lediglich 26 Priester verurteilt worden.

Westpfahl sparte auch den damaligen Papst Benedikt XVI. nicht aus, der von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising war. Auch in seiner Amtszeit sei mit Akten im Ordinariat katastroph­al umgegangen worden. Sie habe nur ein Dokument gefunden, in dem Ratzinger mit einem Missbrauch­sfall befasst war. In einem mehrseitig­en Brief habe er einem Priester klargeBris­anz. macht, dass dieser wegen sexueller Übergriffe aus seiner Pfarrei südlich von München abberufen werden müsse. Ob es eine Strafanzei­ge gegeben habe, sei, so Westpfahl, nicht sicher. Sie meldete Zweifel daran an.

Ist Ratzinger also, mindestens indirekt, an einer jahrzehnte­lang innerhalb der Kirche geübten Praxis beteiligt gewesen: der Versetzung auffällig gewordener Priester in andere Pfarrgemei­nden? Und zwar „unter Verschweig­en der Hintergrün­de“, wie es die Zusammenfa­ssung des Westpfahl-Berichts vermerkt. Eine Praxis, mit der „weitere Opfer sehenden Auges in Kauf genommen wurden“.

Neben Westpfahl saß der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx. Einen „unbedingte­n Aufklärung­swillen“bescheinig­te sie der Bistumslei­tung – und damit auch ihm. Ihr Bericht blieb dennoch unter Verschluss, die Fragen zu Ratzingers Verhalten unbeantwor­tet.

Wie die zu seiner Rolle im Fall Peter H., von dem nicht ganz klar ist, inwiefern er in den von Westpfahl gesichtete­n Akten vorkommt – und der Ratzinger bereits seit März 2010 verfolgt. Damals wurde publik, dass er 1980 dem Umzug eines pädophilen Priesters von Essen ins Erzbistum München und Freising zustimmte. H. sollte dort therapiert werden – wurde aber als Seelsorger eingesetzt. 1986 wurde H. dann wegen sexuellen Missbrauch­s Minderjähr­iger zu einer 18-monatigen Bewährungs­strafe verurteilt, doch erst 2010 suspendier­t. Dazwischen hatte er als Seelsorger Kontakt zu Kindern und Jugendlich­en.

Nach Berichten des Recherchez­entrums Correctiv und des ZDFMagazin­s „Frontal21“aus der vergangene­n Woche sollen die Verbindung­en zwischen H. und Ratzinger größer gewesen sein, „als die Kirche ... es bis heute wahrhaben“wolle. So soll ein enger Vertrauter Ratzingers jahrelang mit dem Priester eine Gemeinde betreut haben, „ohne zu verhindern, dass dieser sich mit Messdiener­n umgab, obwohl er – wie die Kirchenlei­tung – von dessen Gefährlich­keit wusste“. Im Jahr 2000 habe H. sogar geprahlt, Ratzinger habe bei ihm vor der Tür gestanden. Dieser ließ das gegenüber der katholisch­en Zeitung Tagespost dementiere­n. Einem Medienberi­cht zufolge darf der 72-jährige Peter H. mittlerwei­le keine Priestertä­tigkeit mehr ausüben. Er gehöre aber weiter dem Klerikerst­and an und erhalte Ruhestands­bezüge. »Kommentar

Ein Bericht von 2010 enthält Brisantes

 ?? Foto: Reh, dpa ?? Joseph Ratzinger, Erzbischof von München und Freising, im Jahr 1977.
Foto: Reh, dpa Joseph Ratzinger, Erzbischof von München und Freising, im Jahr 1977.

Newspapers in German

Newspapers from Germany