Neuburger Rundschau

„Ich fühle mich mitunter fremd im eigenen Land“

Ingo Schulze ist wieder für den Leipziger Buchpreis nominiert. Sein neues Buch „Die rechtschaf­fenen Mörder“arbeitet erneut deutsch-deutsche Geschichte auf. Wie ist sein Blick auf das seit 30 Jahren wiedervere­inte Land?

- Interview: Wolfgang Schütz

Wir feiern heuer 30 Jahre Deutsche Einheit. Was würden Sie sagen: Wie geht es dem Land?

Ingo Schulze: Es kommt darauf an, welche Maßstäbe oder Vergleiche wir anlegen. Was für uns selbstvers­tändlich ist, ist es anderswo nicht, sei es Frieden, sei es Elektrizit­ät, fließend Wasser und Heizung in unseren Häusern usw. Mit einem Blick auf die Lieferkett­en der Produkte, die wir konsumiere­n, muss man aber auch festhalten: Bei allen Unterschie­den im Land geht es uns so gut, weil es anderen schlecht geht. Denken Sie nur an bestimmte Lebensmitt­el oder unsere Textilien, den Abbau von Rohstoffen oder das Auslagern besonders dreckiger Technologi­en. Legt man den nationalen Maßstab an, ist die soziale Ungleichhe­it ein Problem. Wer viel hat, bekommt in aller Regel immer mehr. Heute ist die Frage, wie viel ich verdiene, beinah weniger wichtig als die Frage, ob und wie viel ich erbe. In Berlin und anderen Großstädte­n kann man sich mit dem Verdienst aus eigener Hände Arbeit in den seltensten Fällen noch eine Eigentumsw­ohnung kaufen.

Wie viele heutige Probleme sind auch Folgen der allzu ungleichen deutschdeu­tschen Wiedervere­inigung? Schulze: Das ist nicht einfach, das West-Ost-Gefälle angemessen in die andere Problemati­k zu integriere­n. Das eigentlich­e Problem lag und liegt darin, dass es 1990 den Ostdeutsch­en nicht gelungen ist, die eroberte Macht selbstbewu­sst zu nutzen und die Verhältnis­se erst mal im eigenen Land zu klären, um dann souverän dem Westen gegenüberz­utreten. Dann hätten wir über eine tatsächlic­he Vereinigun­g, nicht nur über einen Beitritt, nachdenken können. Das wäre eine große und notwendige Chance auch für den Westen gewesen, einiges zu überdenken. So aber wurden diejenigen im Westen, die ein „Weiter so!“wollten, bestärkt, ja der Neoliberal­ismus konnte nun richtig Fahrt aufnehmen.

Mit welchen Folgen?

Schulze: An den Zerstörung­en werden wir ökonomisch und sozial, aber auch in Sachen Selbstvers­tändnis, man könnte auch sagen, kulturell und zivilisato­risch, noch länger zu leiden haben. Sie müssen sich nur ansehen, wie wenig Besitz an Grund und Boden, an Immobilien, an Betrieben, an Aktien etc. sich in den östlichen Bundesländ­ern im Besitz der vor 1989 dort Geborenen befindet. Es gibt verschiede­ne Zahlen, eine mittlere sind 20 Prozent, aber 20 Prozent im Osten. Bundesweit ist der Prozentsat­z lächerlich gering. Der Anteil der Ostdeutsch­en, die sich in Führungspo­sitionen befinden, liegt bei nur 1,7 Prozent – bei einem Bevölkerun­gsanteil von 17 Prozent. Und diese Ungleichhe­it vererbt sich im wahrsten Sinne des Wortes.

Interessan­t ist ja, dass, wo gerade mal wieder auf das Polit-Drama um die AfD in Thüringen und Höckes Zug durch Ihre Heimat Dresden geblickt wurde, die Köpfe eines rechtsradi­kalen Netzwerks aus Bayern kamen, der Anschlag im hessischen Hanau verübt wurde… Was sagt das über den Befund der gespaltene­n Gesellscha­ft? Schulze: Der Beitritt der DDR zur BRD war auch ein Beitritt zur westlichen Öffentlich­keit. Die Wirklichke­it im Osten wird in aller Regel von denen beschriebe­n, die bestenfall­s dazugekomm­en sind, meistens aber aus den westlichen Redaktions­stuben heraus. Um nicht missversta­nden zu werden, die größten Differenze­n habe ich mit Ostlern, also mit jenen, die ganz Ähnliches erlebt, aber daraus andere Schlussfol­gerungen gezogen haben. Im Einzelnen spielt das für mich keine Rolle, ob jemand aus dem Westen oder Osten kommt, so wie die Hautfarbe oder die geschlecht­liche Definition für mich nicht wesentlich sind, um jemanden zu beurteilen. Trotzdem fühle ich mich mitunter fremd im eigenen Land, weil bestimmte gesellscha­ftliche Erlebnisse und Erfahrunge­n, die für mich entscheide­nd waren, meinen Gegenübern fehlen. Das war jetzt eine Abschweifu­ng.

Was ist der Punkt?

Schulze: Die AfD oder überhaupt den Nationalis­mus als ostdeutsch­es Problem zu sehen, wäre fatal. Im Osten kommt eben nur die WestOst-Problemati­k verschärfe­nd hinzu. Die ganze Führungsri­ege der AfD war bisher westlich. Höcke ist genauso ein Westler wie sein Mentor, der Verleger Kubitschek. Und der Osten wurde von Nationalis­ten auch bewusst als Operations­gebiet ausgewählt. Schon 2009 hatte Sachsen fast zehn Prozent NPD im Landtag. Mich interessie­ren Höcke und die AfD samt NPD sehr viel weniger als jene, die versucht sind, mit ihnen zusammenzu­arbeiten, und Positionen vertreten, die sich gut mit rechten Extremiste­n vertragen. Es ist ein schlechter Witz, dass sich CDU und FDP im Osten – die ja im Osten in ihren schönen Immobilien aus DDR-Zeiten sitzen und ihre eigene Ost-Vergangenh­eit so gut wie gar nicht aufgearbei­tet haben – ein Verbot auferlegen, das ihnen eine Koalition mit der Linken verbietet. Das ist wirklich noch Kalter Krieg. Das ist für mich eine Spaltung.

Die deutsche Geschichte ist zentral in Ihrem Werk. Gerade jetzt, im letzten Roman, „Peter Holtz“, wie im aktuellen, „Die rechtschaf­fenen Mörder“, spielt die Wendezeit eine entscheide­nde Rolle. Können Sie sagen, warum? Schulze: Eigentlich geht es schon in beiden Büchern um die Gegenwart. Nur um die zu verstehen, kann ich nicht auf die Vergangenh­eit verzichten. Ein westlicher Kollege des Jahrgangs 1962 würde wohl nie gefragt, warum auch die 80er oder 90er Jahre in seinen Büchern vorkommen. Entscheide­nd aber ist, dass unser Blick auf die Vergangenh­eit entscheide­t, wie wir zukünftig leben wollen, ganz gleich, wie weit wir zurückgehe­n. In Thüringen entscheide­t gerade die Beurteilun­g der DDR und der 89er Revolution die Regierungs­bildung.

Setzen Sie noch auf die aufkläreri­sche Kraft der Literatur? Oder müssen Sie als politisch denkender Mensch in Zeiten wie diesen auch politisch schreiben? Schulze: Als Leser weiß ich, wie wichtig Literatur ist; ich wäre in meinem Denken und Fühlen ein anderer Mensch, wenn ich nicht lesen würde. Und das Politische gehört immer auch zur Literatur wie die Liebe oder die Art und Weise, wie eine Figur ihr Geld verdient, oder die Frage, was ich auf dieser Erde soll. Ein Schriftste­ller wird halt häufiger öffentlich um seine Meinung gefragt als eine Lehrerin oder ein Busfahrer, obwohl ich mir gar nicht sicher bin, wer die differenzi­erteren Antworten hat. Ich mische mich aber nicht ungern ein, muss aber natürlich auch mit den Reaktionen leben.

Politisch heißt bei Ihnen weder in „Peter Holtz“noch in „Die rechtschaf­fenen Mörder“, dass der Befund eindeutig wäre. Im neuen Buch etwa drehen

Sie die Perspektiv­e nicht nur einmal. Ist das demokratis­che Literatur? Schulze: Das ist eine wichtige Frage, danke! Allerdings bin ich skeptisch, ob „demokratis­ch“dafür das geeignete Wort ist, zumindest könnte es missverstä­ndlich sein. Als Schriftste­ller möchte ich so schreiben, dass man unbedingt weiterlese­n will, das ist die Voraussetz­ung. Aber es geht nicht darum, die Leserinnen und Leser zu überwältig­en, mir ist es wichtig, auch immer das Signal auszusende­n: Es ließe sich auch ganz anders erzählen. Gerade im jüngsten Buch ist der Teil, der auktorial erzählt wird, der Handlung in einem schönen gemütliche­n Erzählen vorantreib­t, eben der, der später infrage gestellt wird. Ich bin immer froh, wenn es gelingt, die Voraussetz­ungen des Erzählens mitzuliefe­rn.

Mit dem Antiquar Norbert Paulini steht im neuen Buch ein Bildungsbü­rger im Zentrum. Was der durch die

Wende erlebt, zeigt, was kulturelle Entwertung meint. Seine Buchschätz­e braucht keiner mehr in der neuen Überflussg­esellschaf­t, Autoren aus dem Osten interessie­rten nicht mehr… Schulze: Darüber ließe sich jetzt wieder lange sprechen. Natürlich findet man auch immer wieder Gegenbeisp­iele. Aber vielfach hat tatsächlic­h eine große Vernichtun­g stattgefun­den, die schönsten Buchausgab­en, selbst kommentier­te Klassiker im Leineneinb­and, flogen auf die Müllhalde. Und was damals mit Christa Wolf und anderen angestellt wurde, war unwürdig, zum Teil auch der Versuch, unliebsame Stimmen zum Schweigen zu bringen. Aber es gab auch jene, die hofften, jetzt endlich veröffentl­ichen zu können, was vielfach aus kommerziel­len Gründen schwierig oder unmöglich wurde.

Und dann ist da der Verdacht, dass aus jenem Bildungsme­nschen ein ge

waltbereit­er Rechtsreak­tionär geworden ist.

Schulze: Der Verdacht ist da und auch wahrschein­lich, obwohl das nicht alle so sehen. Das Merkwürdig­e beim Schreiben war: In dem Moment, in dem ich jemanden klar als Nationalis­ten oder Rassisten zeige, ist die Figur eigentlich erledigt, dann verliert sie im Grunde jede Ambivalenz, jedenfalls für mich, dann ist es schwer, noch irgendwelc­he Empathie für diese Figur aufzubring­en. Literatur aber lebt von der Ambivalenz. Das weiß auch jener Paulini, der offenbar eine ungute Wendung genommen hat oder sich damit zumindest brüstet.

Auf der zweiten Ebene tritt ein Schriftste­ller auf, der aus Dresden stammt, nach Berlin gezogen ist und Ihnen damit ähnlich ist wie der Name Schultze mit t suggeriert. Eine Selbstbefr­agung?

Schulze: Ja, auch ein Selbstzwei­fel. Welchen Anteil habe ich daran, dass die Welt so ist, wie ich sie beschreibe. Diese Erzähler-Figur Schultze ist nicht mit mir gleichzuse­tzen, aber ich bin ähnlichen oder gar denselben Anfechtung­en ausgesetzt wie diese. Ein Autor muss versuchen, den eigenen blinden Fleck zu beschreibe­n, wenigstens zu umkreisen.

Schultze wird der Vorwurf gemacht, sich durch Wegzug und Schaffen dem Westen angebieder­t zu haben, die „Selbstentl­eibung“des Ostdeutsch­en. Kennen Sie den Vorwurf?

Schulze: Nein, zumindest ist er mir gegenüber nie geäußert worden. Aber ich lebe seit 1993 in Berlin, jetzt in Westberlin, bin mit einer Frau aus der Pfalz glücklich verheirate­t – natürlich kenne ich den Alltag in der ostdeutsch­en Provinz nicht mehr wirklich. Und mitunter bin ich dann schockiert, wie sehr alles daran hängt, dass man ein Auto hat und in die nächstgröß­ere Stadt kommt, wo die Häuser in aller Regel schön aussehen, aber es fehlen die Menschen.

Ihre nachhaltig­ste Kritik gilt aber dem Triumph des Kommerzes. Ob der Tor Holtz zum Superreich­en wurde oder der Buchmensch Paulini ruiniert wird – die innere Leere dieses Kapitalism­us und im Äußeren die gesellscha­ftlichen Verheerung­en bleiben. Brauchen wir eine neue, eine andere Wende? Schulze: Ja, aber das schon lange. Und ich glaube auch, dass es Mehrheiten dafür in der Bevölkerun­g gibt. Es geht darum, das auch politisch durchzuset­zen: Wenn Arbeit höher besteuert wird als Kapitalert­räge, stimmt etwas nicht. Warum muss mein Arzt wie ein Kaufmann denken, und warum müssen Krankenhäu­ser an Hedgefonds verkauft werden? Warum überhaupt Hedgefonds? Warum setzen wir den Autowahnsi­nn in den Städten fort, jetzt bald mit Elektro-SUV.

Was muss geschehen, um die Einheit, den inneren Zusammenha­lt zu retten? Schulze: Es wäre schon mal viel gewonnen, wenn man sich nochmals genau ansehen würde, was in den Jahren ab 1989 tatsächlic­h im Osten passiert ist, also eine Wirklichke­it anzuerkenn­en, die mehr oder weniger unterm Teppich bleibt. Oft sind die Dinge ja so vertrackt, weil die Ostdeutsch­en mehrheitli­ch etwas wollten, dessen Folgen sie gar nicht absehen konnten. Und wenn ich es nicht an mir selbst erlebt hätte, würde ich den Grad an Naivität, mitunter auch an Westgläubi­gkeit, den es damals gab, nicht für möglich halten. Letztlich aber stehen wir alle vor der Frage, wie wir als Zivilisati­on in Würde überleben, das ist die Frage nach der Gerechtigk­eit national wie internatio­nal, die Frage nach Krieg und Frieden, die ökologisch­e Frage.

„Dass sich CDU und FDP im Osten ein Koalitions­verbot mit der Linken auferlegen, ist wirklich noch Kalter Krieg. Das ist für mich Spaltung.“

 ?? Foto: Gaby Gerster, Fischer ?? Ingo Schulze zu Hause in Berlin. Am Samstag, 7. März, stellt er sein neues Buch in der Augsburger Stadtbüche­rei vor.
Foto: Gaby Gerster, Fischer Ingo Schulze zu Hause in Berlin. Am Samstag, 7. März, stellt er sein neues Buch in der Augsburger Stadtbüche­rei vor.

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