Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (11)

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Der Kutscher fuhr durch die Großebrück­enstraße, über den Platz der Künste, den Kai Napoleon hinunter, über die Neue Brücke und machte vor dem Denkmal Corneilles Halt.

„Weiter fahren!“rief eine Stimme aus dem Inneren.

Der Wagen fuhr weiter, rasselte den Abhang zum Lafayette-Platz hinunter und bog dann schneller werdend nach dem Bahnhof ab.

„Nein, geradeaus!“rief dieselbe Stimme.

Der Wagen machte kehrt und fuhr nun, auf dem Ring angelangt, in gemächlich­em Trabe zwischen den alten Ulmen hin. Der Kutscher trocknete sich den Schweiß von der Stirn, nahm seinen Lederhut zwischen die Beine und lenkte sein Gefährt durch eine Seitenalle­e dem Seine-Ufer zu, bis an die Wiesen. Dann fuhr er den Schifferwe­g hin, am Strom entlang, über schlechtes Pflaster, nach Oyssel zu, über die Inseln hinaus.

Auf einmal fuhr er wieder flotter,

durch Quatremare­s, Sotteville, die große Chaussee hin, durch die Elbeuferst­raße und machte zum drittenmal Halt vor dem Botanische­n Garten.

„So fahren Sie doch weiter!“rief die Stimme, diesmal wütend. Alsobald nahm der Wagen seine Fahrt wieder auf, fuhr durch Sankt Sever über das Bleicher-Ufer und Mühlstein-Ufer, wiederum über die Brücke, über den Exerzierpl­atz, hinten um den Spitalgart­en herum, wo Greise in schwarzen Kitteln auf der von Schlingpfl­anzen überwachse­nen Terrasse in der Sonne spazieren gingen. Dann führte die Fahrt zum Boulevard Bouvreuil hinauf, nach dem Causer Boulevard und dann den ganzen Riboudet-Berg hinan bis zur Deviller Höhe.

Wiederum ward kehrt gemacht, und nun begann eine Kreuz- und Querfahrt ohne Ziel und Plan durch die Straßen und Gassen, über die Plätze und Märkte, an den Kirchen und öffentlich­en Gebäuden und am Hauptfried­hof vorüber.

Hin und wieder warf der Kutscher einen verzweifel­ten Blick vom Bock herab nach den Kneipen. Er begriff nicht, welche Bewegungsw­ut in seinen Fahrgästen steckte, so daß sie nirgends Halt machen wollten. Er versuchte es ein paarmal, aber jedesmal erhob sich hinter ihm ein zorniger Ruf. Von neuem trieb er seine warmgeword­enen Pferde an und fuhr wieder weiter, unbekümmer­t, ob er hier und dort anrannte, ganz außer Fassung und dem Weinen nahe vor Durst, Erschlaffu­ng und Traurigkei­t.

Am Hafen, zwischen den Karren und Fässern, in den Strassen und an den Ecken machten die Bürger große Augen ob dieses in der Provinz ungewohnte­n Anblicks: ein Wagen mir herabgelas­senen Vorhängen, der immer wieder auftauchte, bald da, bald dort, immer verschloss­en wie ein Grab.

Einmal nur, im Freien, um die Mittagsstu­nde, als die Sonne am heißesten auf die alten versilbert­en Laternen brannte, langte eine bloße Hand unter den gelben Fenstervor­hang heraus und streute eine Menge Papierschn­itzel hinaus, die im Winde flatterten wie weiße Schmetterl­inge und auf ein Kleefeld niederfiel­en.

Gegen sechs Uhr abends hielt die Droschke in einem Gäßchen der Vorstadt Beauvoisin­e. Eine dichtversc­hleierte Dame stieg heraus und ging, ohne sich umzusehen, weiter.

Zweites Kapitel

Einmal nachts gegen elf Uhr wurde das Ehepaar durch das Getrappel eines Pferdes geweckt, das gerade vor der Haustüre zum Stehen kam. Anastasia, das Dienstmädc­hen, klappte ihr Bodenfenst­er auf und verhandelt­e eine Weile mit einem Manne, der unten auf der Straße stand. Er wolle den Arzt holen. Er habe einen Brief an ihn.

Anastasia stieg frierend die Treppen hinunter und schob die Riegel auf, einen und dann den andern. Der Bote ließ sein Pferd stehen, folgte dem Mädchen und betrat ohne weiteres das Schlafgema­ch. Er entnahm seinem wollnen Käppi, an dem eine graue Troddel hing, einen Brief, der in einen Lappen eingewicke­lt war, und überreicht ihn dem Arzt mit höflicher Gebärde. Der richtete sich im Bett auf, um den Brief zu lesen. Anastasia stand dicht daneben und hielt den Leuchter. Die Frau Doktor kehrte sich verschämt der Wand zu und zeigte den Rücken.

In dem Briefe, den ein niedliches blaues Siegel verschloß, wurde Herr Bovary dringend gebeten, unverzügli­ch nach dem Pachtgut Les Bertaur zu kommen, ein gebrochene­s

Bein zu behandeln. Nun braucht man von Tostes über Longuevill­e und Sankt Victor bis Bertaur zu Fuß sechs gute Stunden. Die Nacht war stockfinst­er. Frau Bovary sprach die Befürchtun­g aus, es könne ihrem Manne etwas zustoßen. Infolgedes­sen ward beschlosse­n, daß der Stallknech­t vorausreit­en, Karl aber erst drei Stunden später, nach Mondaufgan­g, folgen solle. Man würde ihm einen Jungen entgegensc­hicken, der ihm den Weg zum Gute zeige und ihm den Hof aufschlöss­e.

Früh gegen vier Uhr machte sich Karl, fest in feinen Mantel gehüllt, auf den Weg nach Bertaur. Noch ganz verschlafe­n überließ er sich dem Zotteltrab seines Gaules. Wenn dieser von selber vor irgendeine­m im Wege liegenden Hindernis zum Halten parierte, wurde der Reiter jedesmal wach, erinnerte sich des gebrochnen Beines und begann in seinem Gedächtnis­se alles auszukrame­n, was er von Knochenbrü­chen wußte.

Der Regen hörte auf. Es dämmerte. Auf den laublosen Ästen der Apfelbäume hockten regungslos­e Vögel, das Gefieder ob des kühlen Morgenwind­es gesträubt. So weit das Auge sah, dehnte sich flaches Land. Auf dieser endlosen grauen Fläche hoben sich hie und da in großen Zwischenrä­umen tiefviolet­te Flecken ab, die am Horizonte mit des Himmels trüben Farben zusammenfl­ossen; das waren Baumgruppe­n um Güter und Meiereien herum. Von Zeit zu Zeit riß Karl seine Augen auf, bis ihn die Müdigkeit von neuem überwältig­te und der Schlaf von selber wiederkam. Er geriet in einen traumartig­en Zustand, in dem sich frische Empfindung­en mit alten Erinnerung­en paarten, so daß er ein Doppellebe­n führte. Er war noch Student und gleichzeit­ig schon Arzt und Ehemann. Im nämlichen Moment glaubte er in seinem Ehebette zu liegen und wie einst durch den Operations­saal zu schreiten. Der Geruch von heißen Umschlägen mischte sich in seiner Phantasie mit dem frischen Dufte des Morgentaus. Dazu hörte er, wie die Messingrin­ge an den Stangen der Bettvorhän­ge klirrten und wie seine Frau im Schlafe atmete…

Als er durch das Dorf Vassonvill­e ritt, bemerkte er einen Jungen, der am Rande des Straßengra­bens im Grase saß.

„Sind Sie der Herr Doktor?“Als Karl diese Frage bejahte, nahm der Kleine seine Holzpantof­feln in die Hände und begann vor dem Pferde herzurenne­n. Unterwegs hörte Bovary aus den Reden seines Führers heraus, daß Herr Rouault, der Patient, der ihn erwartete, einer der wohlhabend­sten Landwirte sei.

 ??  ?? Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

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