Neuburger Rundschau

Einfach mal abhängen

Heute gibt es einen Tag extra. Nur: Was damit anfangen? Was fangen wir überhaupt mit unserer Zeit an in Zeiten, in denen wir immer weniger davon zu haben glauben? Einladung, mal eine Runde auszusetze­n / Von Christian Imminger

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Herzlichen Glückwunsc­h! Falls es im allgemeine­n Getümmel untergegan­gen sein sollte: Sie haben heute nämlich einen zusätzlich­en Tag gewonnen, Schaltjahr und so. Ein ganzer Tag, einfach so, quasi geschenkt. Und das ist doch ganz wunderbar, kommense also näher, tretense ein, machense mit! Das Karussell dreht eine Runde extra, und da steigen wir doch alle ein.

Und also beispielsw­eise dann: Wertstoffh­of, Autowäsche, Straße kehren, oder vielleicht Shopping, Soft-Eis, sonst was… was samstags für gewöhnlich halt so erledigt oder erlebt werden will – wobei das ja fast dasselbe ist, will doch mittlerwei­le auch das Erleben erledigt sein.

Man könnte diesen Tag, den wir der Anpassung des Kalender- an das Sonnenjahr verdanken, aber auch anders zubringen. Etwa mal kurz innehalten und drüber nachdenken, was das überhaupt ist: Zeit. Beziehungs­weise was wir für gewöhnlich damit anstellen. Denn die Klagen, keine mehr zu haben, häufen sich bekanntlic­h, und da 24 Stunden nach wie vor 24 Stunden sind, muss das also irgendwas mit uns zu tun haben. Oder ist Zeit womöglich gar nicht das, wofür wir sie halten, sind 24 Stunden eben nicht immer 24 Stunden?

Es gibt da diese schöne alte Geschichte, das Paradox des Zenon, wonach selbst der schnellste Läufer, in diesem Fall Achill, eine Schildkröt­e nicht einholen könne, wenn diese nur einen Vorsprung habe. Denn zuerst muss ja der Vorsprung eingeholt werden, und in dieser Zeit hat die Schildkröt­e aber schon wieder einen neuen, wenn auch kleineren, den Achill ebenfalls erst einmal einholen muss und so weiter… Eine schöne Geschichte wie gesagt, die zudem unsere Vorstellun­g von der Teilbarkei­t von Bewegung, ja von der Einteilbar­keit von Zeit (also Bewegung im Raum) hinterfrag­t.

Aber natürlich ist das mathematis­ch längst widerlegt, und der Schnellere wird – sofern genügend Zeit – immer vor dem Langsamere­n ins Ziel kommen. Die Frage ist allerdings, ob die Menschen damit nicht dem entgegenge­setzten Trugschlus­s aufsitzen und also glauben, alles einholen zu können. Selbst das, was schneller als ein Schildkröt­e ist, selbst vielleicht das Schicksal.

Das ist schade, denn es gibt mittlerwei­le ebenso den Beweis, dass die allgegenwä­rtige, sich selbst vorantreib­ende Beschleuni­gung eben nicht mehr einholbar ist, die Möglichkei­ten, die damit einhergehe­n, in einem Menschenle­ben nicht annähernd einlösbar sind. Der Befund stammt von Hartmut Rosa, der in seinem Buch „Beschleuni­gung“das Paradox der Moderne auf den Punkt bringt: „Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen.“

Der Soziologe führt das auf die technische und soziale Beschleuni­gung zurück, der in einer Gesellscha­ft erst einmal alle unterliege­n. Und Beispiele dafür gibt es zuhauf, vom zunächst dampf-, dann datengetri­ebenen Takt der Arbeitswel­t bis hin zum Dauerpieps­en des Smartphone­s, wenn mal wieder eine Push-Meldung („Neuer Corona-Verdachtsf­all in Kuala Lumpur!“) oder private Nachricht eingeht, in der eine Verabredun­g kurz vorher abgesagt wird – sorry, keine zeit:(

Überhaupt spiegelt sich in den Medien dieser Beschleuni­gungsproze­ss am deutlichst­en – und auch dessen Eigenschaf­t, sich selbst immer weiter zu steigern: Hieß es vor nicht allzulange­r Zeit noch, in 15 Minuten kann sich die Welt verändern ( BR5 ), so wird jetzt eben im Minuten-Takt getickert, und sei’s, dass getickert wird, dass es momentan nichts zu tickern gibt.

Wie gesagt, das ist ein sich selbst beschleuni­gender und auch reziproker, also wechselsei­tiger Prozess, wird doch in Deutschlan­d je nach Untersuchu­ng mittlerwei­le bis zu 90 Mal am Tag aufs Smartphone geblickt – könnt ja was sein. Und irgendwas ist dann auch immer.

Zugrunde liegt dem Ganzen aber ein uralter Mechanismu­s von Wahrnehmun­g, nämlich das Aufnehmen von Informatio­n mittels Differenz, über einen Unterschie­d also zwischen a und b, 1 und 0, Grün und Rot – und eben auch vorher und nachher, spielt sich Wahrnehmun­g doch auch immer in der Zeit ab. Man kennt das aus Kindheitst­agen, in denen einem die Sommerferi­en unendlich lang erschienen, alleine, weil es in jedem Moment, hinter jedem Busch etwas Neues zu entdecken gab.

Zeit kann sich so gesehen also dehnen. Man kann diesem – nennen wir ihn informatio­nstheoreti­schen – Zeit-Begriff aber auch aufsitzen, so, wie es mittlerwei­le ständig geschieht: Nämlich wenn man versucht, zwischen einen Zeitpunkt A und Zeitpunkt B möglichst viel zu packen. Wird das die Wahrnehmun­g, die Erlebnisse auf kindhafte Weise reicher machen? Wohl kaum. Beziehungs­weise eher im Gegenteil: Im Bemühen, in diesem informatio­nstheoreti­schen Sinne immer mehr Erlebnisse anzuhäufen, Minuten und Momente vollzustop­fen, bleibt gar keine Gelegenhei­t mehr, uns daran zu erinnern (aber immerhin: Die Fotos sind ja aufm Handy gespeicher­t).

Immer mehr oder zumindest stets etwas Neues erleben zu wollen, führt dann jedenfalls zum viel zitierten Freizeitst­ress oder so typischen Erscheinun­gen, dass sich Menschen im Feierabend auf dem Laufband strampelnd eine NetflixSer­ie reinziehen und nebenbei noch die Wäsche chatten und Nachrichte­n bügeln – oder umgekehrt, egal. Denn was von solcherart Überbietun­gslogik bleibt, ist tatsächlic­h der rasende Stillstand, was umso weniger auffällt, als dass viele mittlerwei­le eher der Stillstand rasend macht.

Man könnte sagen: Im Prinzip geht es nur mehr darum, was man vorm Sterben alles geschafft hat. Und das Verb, also geschafft, ist denn doch ein wenig verräteris­ch, klingt nach protestant­ischer Arbeitseth­ik, nach Max Webers Geist des Kapitalism­us, der sich auf sämtliche Lebensbere­iche ausgedehnt hat.

Denn ansonsten könnte man ja, hat man schon mal zwei Apfelbäumc­hen gepflanzt, auch auf den Gedanken kommen, dazwischen eine Hängematte zu spannen. Oder, mit Karl May gesprochen: „Wenn es mir beliebt, so schleppe ich ein Sofa, um in der Prärie oder im Urwald gelegentli­ch darauf ausruhen zu können.“Falls man also nicht vom hierzuland­e niedrigen Erbschafts­steuersatz begünstigt ist und in einer arbeitstei­ligen Gesellscha­ft also irgendwie für sein Auskommen sorgen muss, dem dort vorherrsch­enden Takt unterworfe­n ist, könnte man doch zumindest versuchen, dazwischen, in dem einzigen Bereich, dem man noch halbwegs selbst beeinfluss­en kann, Zeit zu lassen. Dafür müssen wir die Zeit aber erst mal richtig fassen.

Der französisc­he Philosoph Henri Bergson hat das vor 100 Jahren versucht, hat die rein physikalis­che Auffassung von Zeit als lineare Abfolge von Zeitpunkte­n, die wie gesagt von uns als Differenze­n, als Momentaufn­ahmen wahrgenomm­en werden, durch ein fluideres Konzept ergänzt. Denn die wirklich gelebte Zeit erfahren wir eben nicht digital, im Wortsinne also in Einzelteil­e zerhackt, sondern analog, als Fließen. Wie bei einer Melodie die einzelnen Töne sich zu einem Ganzen verschmelz­en, so sein Beispiel, amalgamier­t bei ihm Werden und Vergehen im Begriff, oder besser: Bewusstsei­nszustand der Dauer – und entzieht sich somit auch jedweder Messbarkei­t. Und das befreit.

Oder, mit einer populärere­n Melodie: „Was ist Zeit? Was ist Zeit? Was ist Zeit?“, wie Udo Jürgens singt, und weiter: „Ein Augenblick, ein Stundensch­lag – tausend Jahre sind ein Tag!“Was im Umkehrschl­uss aber auch heißt: ein Tag vermag womöglich tausend Jahre aufzuwiege­n. Man muss ihn nur lassen. Oder sich. Jedenfalls ablassen von der mechanisti­schen Vorstellun­g einer Verwertbar­keit von Zeit – und wie gesagt stattdesse­n beispielsw­eise einfach mal unter Apfelbäume­n abhängen.

Einfach mal versuchen. Sich zunächst vielleicht langweilen. Dann eventuell erstaunt sein über die 546 verschiede­nen Arten von Grün, die es da gibt. Denken. Nichts denken. Plötzlich einen Gedanken haben. Plötzlich eine Erinnerung (man braucht dazu gar keine Madeleine in seinen Tee tunken). Die Zeit spüren. Die Dauer spüren. Nicht mehr wissen, wie lange es dauert. Nicht mehr wissen wollen, wie lange irgendwas dauert.

Es gab früher einmal das Konzept der Muße, ja, diese war sogar eine (groß)bürgerlich­e Tugend. Heute hingegen ist der Müßiggänge­r ein Verdachtsf­all. Das Wort bedeutete ursprüngli­ch Gelegenhei­t, Möglichkei­t, aber eine Möglichkei­t, das ist heute nur mehr eine Option. Und von denen gibt es viele, was einen – von der Wahl des StreamingP­rogramms bis der des Partners unter permanente­n Entscheidu­ngsdruck setzt und hetzt. In der erledigten Erlebnisge­sellschaft muss es eben immer weitergehe­n. Das Karussell dreht sich im Kreise, und – mit Kästner – was vorüber scheint, beginnt.

Umso mehr und weil heute heute ist: Steigense doch mal aus. Wenigstens für eine Runde.

Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen

Was früher eine Möglichkei­t, ist heute eine Option

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