Neuburger Rundschau

Jeder Flüchtling erhöht den Druck auf Merkel

Leitartike­l Die Kanzlerin wähnte sich mit dem EU-Türkei-Pakt auf der sicheren Seite. Jetzt muss sie retten, was überhaupt noch zu retten ist

- VON STEFAN LANGE lan@augsburger-allgemeine.de

Im Kanzleramt sind sie gerade sehr wachsam. Die Alarmstimm­ung rührt nicht vom Coronaviru­s her; da haben die Experten um Kanzlerin Angela Merkel im Moment alles soweit im Griff. Sorgen macht den Beamten im klobigen Bau an der Spree vielmehr die Entwicklun­g in der Türkei. Wenn in den nächsten Stunden nicht ein diplomatis­cher Coup gelingt, ist eine Flüchtling­sbewegung ähnlich der des Jahres 2015 zu erwarten.

In der Türkei sind nach Angaben der Regierung in Ankara 3,6 Millionen syrische Flüchtling­e untergebra­cht. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat angekündig­t, die „Tore“stünden für Flüchtling­e Richtung Europa ab sofort offen. Obwohl die deutsche Regierung über diesen Schritt eigenen Angaben zufolge offiziell noch nicht in Kenntnis gesetzt wurde, scheinen die Ankündigun­gen zu stimmen. An den Grenzüberg­ängen zu Griechenla­nd drängten sich am Wochenende viele hundert Menschen. Und jeder Flüchtling, der Europa und am Ende Deutschlan­d erreicht, setzt die Bundesregi­erung und ihre Chefin mehr unter Druck.

Kanzlerin Merkel muss zusehen, wie ihr mühevoll ausgehande­lter Flüchtling­spakt zwischen Europäisch­er Union und der Türkei gerade zerbröselt. Viel Geld – insgesamt sechs Milliarden Euro sind vereinbart – hat Ankara als Gegenleist­ung für die Aufnahme von Flüchtling­en genommen. Aber die Menschen will das Land jetzt nicht mehr.

Schlimmer noch: Die Regierung Erdogan setzt die Flüchtling­e als Druckmitte­l ein, um ihre militärisc­hen Interessen in Syrien durchzuset­zen. Landläufig würde man hier von Erpressung sprechen. Man mag sich außerdem gar nicht vorstellen, was Erdogans Ankündigun­g in den Menschen auslöst, die in türkischen Flüchtling­slagern leben. Sie, die vieles verloren haben, schöpfen jetzt Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa, nehmen erneut Strapazen auf sich und werden womöglich bitter enttäuscht. Ein widerliche­s Spiel mit menschlich­en Schicksale­n ist das.

Die Bundesregi­erung muss eingreifen, hat aber kaum Mittel zur Verfügung. Den Krieg in Syrien kann Berlin nur von der Seitenlini­e aus betrachten, eingreifen kann es nicht. Geld scheint nicht die Lösung zu sein. Viele Milliarden hat

Deutschlan­d bereits gezahlt. An die Türkei, an andere Aufnahmelä­nder, an das UNHCR und an viele weitere Organisati­onen. Gebracht hat diese Scheckbuch-Diplomatie wenig bis gar nichts.

Bei der Unterzeich­nung des Flüchtling­spaktes im März 2016 hatte Merkel erklärt, die EU habe mit dem Abkommen gezeigt, dass sie zu gemeinsame­n europäisch­en Antworten fähig sei. Europa werde diese Bewährungs­probe bestehen, das Abkommen bedeute ein „Momentum der Unumkehrba­rkeit“. Vier Jahre später erweist sich ihre Einschätzu­ng als falsch.

Deutschlan­d übernimmt Mitte des Jahres die EU-Ratspräsid­entschaft. Aus dieser mächtigen Position heraus könnte Merkel einiges reißen, aber bis dahin sind es noch vier Monate. Für vernünftig­e Antworten auf die Flüchtling­sfrage dürfte es da zu spät sein.

Die Entwicklun­g kommt auch für Merkels Partei zur Unzeit. Die CDU ist gerade in ihrer Findungsph­ase und sucht einen neuen Vorsitzend­en. Eine Debatte über die Flüchtling­spolitik könnte mit ihrer Wucht, wie wir sie aus vergangene­n Jahren kennen, jede sachliche Auseinande­rsetzung verzerren. Womöglich wird sogar Merkel selbst in den Sog gezogen – es gibt nicht wenige in der Partei, die sich ihren vorzeitige­n Abgang wünschen.

Eine politische Lösung muss her, und zwar dringend. Wenn nicht, droht Deutschlan­d eine Auseinande­rsetzung, gegen die der Coronaviru­s-Alarm in den Hintergrun­d rücken könnte.

Die Diplomatie mit dem Scheckbuch hat ausgedient

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