Neuburger Rundschau

Eine uralte Stadt versinkt im Wasser

Umwelt Im Südosten der Türkei ist ein riesiger Staudamm gebaut worden. Ein Zeichen des Fortschrit­ts, sagt die Regierung. Für die Stadt Hasankeyf und ihre historisch­en Stätten aber bedeutet das den Untergang

- VON SUSANNE GÜSTEN

Hasankeyf Eine alte Frau hebt die Hände im Gebet zum Himmel, als die 600 Jahre alte Er-Rizk-Moschee im Dezember auf eine rollende Plattform gehievt wird. Der Bauingenie­ur Ali Naci Kösali, der die Aktion dirigiert, versichert ihr: „Wir haben alles durchgetes­tet und die Strecke ausprobier­t, wir sind bereit.“Kein Steinchen werde bei der Umsiedlung der historisch­en Moschee beschädigt, verspricht Kösali. An ihrem neuen Standort in einem Kulturpark werde sie bald wieder zum Gottesdien­st eröffnet. Doch als der Transport anrollt, kommen der alten Anwohnerin die Tränen.

Als letztes von sieben Kulturdenk­mälern in der historisch­en Unterstadt von Hasankeyf wird die Moschee vor den heranrolle­nden Fluten des Tigris gerettet. Den historisch­en Basar im Ortskern haben Bagger schon im Monat zuvor abgerissen. Denn die Stadt am Tigris im Südosten der Türkei – sie geht unter.

Der Grund dafür liegt hundert Kilometer flussabwär­ts, nahe des Dörfchens Ilisu, wo im Sommer ein neuer Staudamm in Betrieb gegangen ist. Für die türkische Regierung ist er ein Zeichen des Fortschrit­ts – Teil eines Entwicklun­gsprojekts mit Dämmen und Wasserkraf­twerken, das armen Regionen Strom, Wasser und Arbeit bringen soll. Zugleich bedeutet er aber auch, dass das Wasser unaufhalts­am Richtung Hasankeyf steigt. Inzwischen hat der Wasserpege­l die uralte Kleinstadt erreicht: Was jetzt noch von dem antiken Ort übrig ist, wird nach und nach im Wasser versinken.

Für die Bewohner von Hasankeyf hat die Regierung eine Neustadt bauen lassen. Sie liegt gegenüber auf einem kahlen, brütend heißen Hang: Kolonien von Retortenhä­usern reihen sich aneinander, gebaut von der Firma Tokie, die in der Türkei für die Gleichmach­erei ganzer Großstädte verantwort­lich ist. Wochen, bevor das erste Wasser Hasankeyf erreichte, haben die Einwohner viele ihrer Toten aus den Gräbern geholt und die Gebeine auf den Friedhof in der Neustadt umgebettet. Sie selbst aber sind in Hasankeyf geblieben, heißt es.

Was den Menschen nach und nach verloren geht, kann man nur verstehen, wenn man mit Erkan vor Monaten auf die Kalksteink­lippen geklettert ist, die in Hasankeyf steil aus dem Tigris ragen. „Von der Anhöhe aus werden wir Kulturschä­tze aus 10 000 Jahren sehen“, verspricht der junge, einheimisc­he Führer beim Aufstieg auf einem steinigen und gewundenen Pfad: „Die Assyrer, die Meder und die Perser siedelten hier schon vor Beginn unserer Zeitrechnu­ng; in den Jahrhunder­ten nach Christus wurde die Stadt von den Byzantiner­n beherrscht, dann von den Artukiden, den Akkoyunlu, den Seldschuke­n und den Osmanen.“Dann braucht Erkan seinen Atem erst einmal für den steilen Anstieg und seine Aufmerksam­keit, um nicht vom unbefestig­ten Weg zu rutschen und 20 oder 30 Meter tief abzustürze­n.

An einer Wegbiegung tut sich dem Wanderer ein Abgrund mit atemberaub­ender Aussicht über Hasankeyf auf. „Da unten im Tigris sehen wir mehrere Brückenpfe­iler, das sind die Überreste der größten Steinbrück­e des Mittelalte­rs“, erzählt Erkan. Ursprüngli­ch wurde die Brücke 1000 Jahre vor Christus von den Assyrern erbaut; die gegenwärti­gen Überreste stammen aus der artukidisc­hen Ära. Die erste Mautbrücke der Welt soll sie gewesen sein. „Sie war zweistöcki­g: Im unteren Stock gingen die Menschen über den Fluss, der obere Stock war für Karawanen.“

Es geht weiter steil bergan bis zur Anhöhe des Palasthüge­ls, der von einem frühchrist­lichen Kirchenbau wird – Hasankeyf war früher Bischofssi­tz. Von der Anhöhe blickt man auf die Bauten in der Unterstadt: die El-Rizk-Moschee, die ayyubidisc­he Koc-Moschee, die Badehäuser und die Stadttore – all das, was nun im Stausee versinken wird.

Erkan zeigt auf das Minarett der Moschee, auf dessen gerundeter Spitze gut 50 Meter über dem Fluss ein Storchenne­st balanciert. „Das Wasser wird bis zu den Lautspreme­n chern am Minarett steigen, also bis knapp unter die Spitze“, erzählt der junge Mann. „Die Unterstadt von Hasankeyf wird komplett im Stausee verschwind­en: die Brücke, die Grabmäler und Moscheen, alles. Nur der Gipfel des Palasthüge­ls, wo wir jetzt stehen, der wird noch aus dem Wasser aufragen.“

Inzwischen ist all das Geschichte: die Monumente; die Aussicht, die nie wieder jemand zu sehen bekomgekrö­nt

wird. Stattdesse­n sollen Touristen künftig mit Ausflugsbo­oten zum Palasthüge­l gebracht werden, um auf der Anhöhe die verblieben­en Kulturgüte­r zu besichtige­n – so hat es die Regierung geplant. Die ErRizk-Moschee und ein halbes Dutzend weiterer Bauten werden auf eine Anhöhe über dem Stausee umgesiedel­t, in einen Archäologi­epark. Zugleich hofft man auf Tauchtouri­sten, die den ertrunkene­n Ort erkunden wollen.

Ein unwiederbr­inglicher Verlust für die Menschheit sei das, sagt der Istanbuler Rechtsanwa­lt Murat Cano, auf dessen Wohnzimmer­tisch in Istanbul sich die Prozessakt­en stapeln. Zwei Jahrzehnte lang hat Cano gegen den Staudamm prozessier­t, durch alle Instanzen – von einem örtlichen Verwaltung­sgericht in Diyarbakir, wo er am 12. Januar 2000 die erste Klage einreichte, bis hin zum Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte in Straßburg. „Dieses kulturelle Erbe gehört nicht mir oder Ihnen, es gehört uns allen“, begründet Cano seinen Kampf.

Das sahen die Gerichte anders, bis hinauf zum Gerichtsho­f für Menschenre­chte, der die Klage im vergangene­n Jahr abschmette­rte. Man sehe zwar einen europäisch­en Trend, das Recht von Minderheit­en auf ihr kulturelle­s Erbe zu schützen, erklärten die Richter. Mit anderen Worten: Hätte Cano als Angehörige­r einer Minderheit geklagt, die ihre Grabstätte­n oder Volkstänze durch den Damm gefährdet sieht, hätte er vielleicht eine Chance gehabt. Aber ein Recht auf Erhaltung des kulturelle­n Menschheit­serbes, so stellte sich heraus, gibt es in Europa nicht. Denn Hasankeyf ist nur die sichtbarst­e Spitze des Kulturerbe­s, das im Stausee untergeht.

Etwa Körtik Tepe, eine von dutzenden archäologi­schen Stätten im Tigris-Tal. Bis zuletzt arbeitete ein internatio­nales Team von Wissenscha­ftlern in der prähistori­schen Siedlung, die nun geflutet wird – und was sie dabei entdeckten, ist bahnbreche­nd. Etwa 10000 Jahre vor Christus hätten sich die ersten Menschen hier niedergela­ssen, also vor rund 12000 Jahren, berichtete Grabungsle­iter Vecihi Özkaya. Es waren Jäger und Sammler. „Eine Gemeinscha­ft, die zwar sesshaft ist, aber noch keine Landwirtsc­haft betreibt – das beobachten wir hier erstmals in der Menschheit­sgeschicht­e“, erklärte Özkaya die wissenscha­ftliche Sensation. „So einen Durchbruch gibt es in der Archäologi­e nur einmal in tausend Jahren.“

Körtik Tepe ist nur eine von vielen Siedlungen aus allen Epochen der Menschheit­sgeschicht­e, die nun geflutet werden – und in denen Rettungsgr­abungen teils ähnlich spektakulä­re Erkenntnis­se zutage förderten. Diese Entdeckung­en seien dem Ilisu-Staudamm zu verdanken, argumentie­rt die türkische Regierung: Im Rahmen des Projekts förderte

Die Menschen haben die Toten umbetten lassen

Vor 12000 Jahren wurden Jäger und Sammler sesshaft

sie fast 300 archäologi­sche Grabungen am Tigris. Ohne den Staudamm wäre Hasankeyf verfallen und vergessen worden; wenn der Staat sie nicht gerettet hätte, wäre die Stadt über kurz oder lang vom Hang gerutscht.

Die Gegner des Staudamms macht das wütend, etwa die Architektu­rhistorike­rin Zeynep Ahunbay. Jahrzehnte­lang hat sich die renommiert­e Professori­n dafür engagiert, das kulturelle Menschheit­serbe von Hasankeyf zu retten – am Ende vergeblich. „Es ist doch die Pflicht des Staates, Kulturgüte­r zu schützen“, sagt die 73-Jährige, die entmutigt in Istanbul sitzt. „Indem man einige historisch­e Artefakte an einen anderen Ort versetzt, hat man Hasankeyf nicht konservier­t.“Im Tigris-Tal ist Ahunbay nicht mehr gewesen, seit der Damm fertig ist – den Anblick des steigenden Wassers könne sie nicht ertragen, sagt sie.

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Foto: Bulent Kilic, Getty Images Hasankeyf steht das Wasser buchstäbli­ch bis zum Hals: In einigen Wochen, wenn der Tigris-Pegel weiter steigt, wird von der Stadt im Südosten der Türkei nichts mehr zu sehen sein.
 ?? Foto: Susanne Güsten ?? So sah es vor Monaten noch aus: Blick von Hasankeyf auf das Tigris-Tal und die UluMoschee.
Foto: Susanne Güsten So sah es vor Monaten noch aus: Blick von Hasankeyf auf das Tigris-Tal und die UluMoschee.

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