Eine uralte Stadt versinkt im Wasser
Umwelt Im Südosten der Türkei ist ein riesiger Staudamm gebaut worden. Ein Zeichen des Fortschritts, sagt die Regierung. Für die Stadt Hasankeyf und ihre historischen Stätten aber bedeutet das den Untergang
Hasankeyf Eine alte Frau hebt die Hände im Gebet zum Himmel, als die 600 Jahre alte Er-Rizk-Moschee im Dezember auf eine rollende Plattform gehievt wird. Der Bauingenieur Ali Naci Kösali, der die Aktion dirigiert, versichert ihr: „Wir haben alles durchgetestet und die Strecke ausprobiert, wir sind bereit.“Kein Steinchen werde bei der Umsiedlung der historischen Moschee beschädigt, verspricht Kösali. An ihrem neuen Standort in einem Kulturpark werde sie bald wieder zum Gottesdienst eröffnet. Doch als der Transport anrollt, kommen der alten Anwohnerin die Tränen.
Als letztes von sieben Kulturdenkmälern in der historischen Unterstadt von Hasankeyf wird die Moschee vor den heranrollenden Fluten des Tigris gerettet. Den historischen Basar im Ortskern haben Bagger schon im Monat zuvor abgerissen. Denn die Stadt am Tigris im Südosten der Türkei – sie geht unter.
Der Grund dafür liegt hundert Kilometer flussabwärts, nahe des Dörfchens Ilisu, wo im Sommer ein neuer Staudamm in Betrieb gegangen ist. Für die türkische Regierung ist er ein Zeichen des Fortschritts – Teil eines Entwicklungsprojekts mit Dämmen und Wasserkraftwerken, das armen Regionen Strom, Wasser und Arbeit bringen soll. Zugleich bedeutet er aber auch, dass das Wasser unaufhaltsam Richtung Hasankeyf steigt. Inzwischen hat der Wasserpegel die uralte Kleinstadt erreicht: Was jetzt noch von dem antiken Ort übrig ist, wird nach und nach im Wasser versinken.
Für die Bewohner von Hasankeyf hat die Regierung eine Neustadt bauen lassen. Sie liegt gegenüber auf einem kahlen, brütend heißen Hang: Kolonien von Retortenhäusern reihen sich aneinander, gebaut von der Firma Tokie, die in der Türkei für die Gleichmacherei ganzer Großstädte verantwortlich ist. Wochen, bevor das erste Wasser Hasankeyf erreichte, haben die Einwohner viele ihrer Toten aus den Gräbern geholt und die Gebeine auf den Friedhof in der Neustadt umgebettet. Sie selbst aber sind in Hasankeyf geblieben, heißt es.
Was den Menschen nach und nach verloren geht, kann man nur verstehen, wenn man mit Erkan vor Monaten auf die Kalksteinklippen geklettert ist, die in Hasankeyf steil aus dem Tigris ragen. „Von der Anhöhe aus werden wir Kulturschätze aus 10 000 Jahren sehen“, verspricht der junge, einheimische Führer beim Aufstieg auf einem steinigen und gewundenen Pfad: „Die Assyrer, die Meder und die Perser siedelten hier schon vor Beginn unserer Zeitrechnung; in den Jahrhunderten nach Christus wurde die Stadt von den Byzantinern beherrscht, dann von den Artukiden, den Akkoyunlu, den Seldschuken und den Osmanen.“Dann braucht Erkan seinen Atem erst einmal für den steilen Anstieg und seine Aufmerksamkeit, um nicht vom unbefestigten Weg zu rutschen und 20 oder 30 Meter tief abzustürzen.
An einer Wegbiegung tut sich dem Wanderer ein Abgrund mit atemberaubender Aussicht über Hasankeyf auf. „Da unten im Tigris sehen wir mehrere Brückenpfeiler, das sind die Überreste der größten Steinbrücke des Mittelalters“, erzählt Erkan. Ursprünglich wurde die Brücke 1000 Jahre vor Christus von den Assyrern erbaut; die gegenwärtigen Überreste stammen aus der artukidischen Ära. Die erste Mautbrücke der Welt soll sie gewesen sein. „Sie war zweistöckig: Im unteren Stock gingen die Menschen über den Fluss, der obere Stock war für Karawanen.“
Es geht weiter steil bergan bis zur Anhöhe des Palasthügels, der von einem frühchristlichen Kirchenbau wird – Hasankeyf war früher Bischofssitz. Von der Anhöhe blickt man auf die Bauten in der Unterstadt: die El-Rizk-Moschee, die ayyubidische Koc-Moschee, die Badehäuser und die Stadttore – all das, was nun im Stausee versinken wird.
Erkan zeigt auf das Minarett der Moschee, auf dessen gerundeter Spitze gut 50 Meter über dem Fluss ein Storchennest balanciert. „Das Wasser wird bis zu den Lautspremen chern am Minarett steigen, also bis knapp unter die Spitze“, erzählt der junge Mann. „Die Unterstadt von Hasankeyf wird komplett im Stausee verschwinden: die Brücke, die Grabmäler und Moscheen, alles. Nur der Gipfel des Palasthügels, wo wir jetzt stehen, der wird noch aus dem Wasser aufragen.“
Inzwischen ist all das Geschichte: die Monumente; die Aussicht, die nie wieder jemand zu sehen bekomgekrönt
wird. Stattdessen sollen Touristen künftig mit Ausflugsbooten zum Palasthügel gebracht werden, um auf der Anhöhe die verbliebenen Kulturgüter zu besichtigen – so hat es die Regierung geplant. Die ErRizk-Moschee und ein halbes Dutzend weiterer Bauten werden auf eine Anhöhe über dem Stausee umgesiedelt, in einen Archäologiepark. Zugleich hofft man auf Tauchtouristen, die den ertrunkenen Ort erkunden wollen.
Ein unwiederbringlicher Verlust für die Menschheit sei das, sagt der Istanbuler Rechtsanwalt Murat Cano, auf dessen Wohnzimmertisch in Istanbul sich die Prozessakten stapeln. Zwei Jahrzehnte lang hat Cano gegen den Staudamm prozessiert, durch alle Instanzen – von einem örtlichen Verwaltungsgericht in Diyarbakir, wo er am 12. Januar 2000 die erste Klage einreichte, bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. „Dieses kulturelle Erbe gehört nicht mir oder Ihnen, es gehört uns allen“, begründet Cano seinen Kampf.
Das sahen die Gerichte anders, bis hinauf zum Gerichtshof für Menschenrechte, der die Klage im vergangenen Jahr abschmetterte. Man sehe zwar einen europäischen Trend, das Recht von Minderheiten auf ihr kulturelles Erbe zu schützen, erklärten die Richter. Mit anderen Worten: Hätte Cano als Angehöriger einer Minderheit geklagt, die ihre Grabstätten oder Volkstänze durch den Damm gefährdet sieht, hätte er vielleicht eine Chance gehabt. Aber ein Recht auf Erhaltung des kulturellen Menschheitserbes, so stellte sich heraus, gibt es in Europa nicht. Denn Hasankeyf ist nur die sichtbarste Spitze des Kulturerbes, das im Stausee untergeht.
Etwa Körtik Tepe, eine von dutzenden archäologischen Stätten im Tigris-Tal. Bis zuletzt arbeitete ein internationales Team von Wissenschaftlern in der prähistorischen Siedlung, die nun geflutet wird – und was sie dabei entdeckten, ist bahnbrechend. Etwa 10000 Jahre vor Christus hätten sich die ersten Menschen hier niedergelassen, also vor rund 12000 Jahren, berichtete Grabungsleiter Vecihi Özkaya. Es waren Jäger und Sammler. „Eine Gemeinschaft, die zwar sesshaft ist, aber noch keine Landwirtschaft betreibt – das beobachten wir hier erstmals in der Menschheitsgeschichte“, erklärte Özkaya die wissenschaftliche Sensation. „So einen Durchbruch gibt es in der Archäologie nur einmal in tausend Jahren.“
Körtik Tepe ist nur eine von vielen Siedlungen aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte, die nun geflutet werden – und in denen Rettungsgrabungen teils ähnlich spektakuläre Erkenntnisse zutage förderten. Diese Entdeckungen seien dem Ilisu-Staudamm zu verdanken, argumentiert die türkische Regierung: Im Rahmen des Projekts förderte
Die Menschen haben die Toten umbetten lassen
Vor 12000 Jahren wurden Jäger und Sammler sesshaft
sie fast 300 archäologische Grabungen am Tigris. Ohne den Staudamm wäre Hasankeyf verfallen und vergessen worden; wenn der Staat sie nicht gerettet hätte, wäre die Stadt über kurz oder lang vom Hang gerutscht.
Die Gegner des Staudamms macht das wütend, etwa die Architekturhistorikerin Zeynep Ahunbay. Jahrzehntelang hat sich die renommierte Professorin dafür engagiert, das kulturelle Menschheitserbe von Hasankeyf zu retten – am Ende vergeblich. „Es ist doch die Pflicht des Staates, Kulturgüter zu schützen“, sagt die 73-Jährige, die entmutigt in Istanbul sitzt. „Indem man einige historische Artefakte an einen anderen Ort versetzt, hat man Hasankeyf nicht konserviert.“Im Tigris-Tal ist Ahunbay nicht mehr gewesen, seit der Damm fertig ist – den Anblick des steigenden Wassers könne sie nicht ertragen, sagt sie.