Hightech und Handarbeit
Unternehmen aus der Region Technische Produkte, Schmuck und funkelnde Glassteine: Die Betriebe der Gablonzer Industrie eint ihre Vielfalt – und eine bewegte Geschichte
Kaufbeuren Schmuck, den einst die Diven Sophia Loren und Marlene Dietrich schätzten. Knöpfe für die Kollektionen von Joop, Boss und Escada. Schneekugeln, die den stillen Zauber an Weihnachten betonen. Technische Teile und Baugruppen für nahezu alle industriellen Branchen. Diese Produkte haben mitunter eine gemeinsame Herkunft. Sie werden in Betrieben der Gablonzer Industrie gefertigt, die bei Kaufbeuren angesiedelt sind.
„Erfindergeist und die Suche nach innovativen Lösungen sind seit jeher eng mit den Unternehmen verbunden“, sagt Thomas Nölle, der Geschäftsführer des Bundesverbandes der Gablonzer Industrie, der den derzeit 65 Mitgliedsbetrieben ein Dach gibt. Den Anfang dieses glänzenden Stücks Wirtschaftsgeschichte im Allgäu markiert das Ende des Zweiten Weltkriegs, als sich die ersten Vertriebenen aus Gablonz an der Neiße im nordböhmischen Isergebirge (heute Tschechien) auf dem Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik bei Kaufbeuren niederließen. Dort bauten die Unternehmer die Industrie ihrer Heimat wieder auf. Der Grundstein des späteren Kaufbeurer Stadtteils Neugablonz.
Damals griffen die Handwerker sogar auf die innen goldfarbenen Dosen der Amerikaner vom Fliegerhorst zurück. Das Blech sei teilweise mit Handscheren zugeschnitten und verarbeitet worden, erzählt man sich noch heute – nicht ohne Stolz auf die Aufbauleistung. Offenbar haben sich die Unternehmer, die ihre Betriebe im Allgäu nun mitunter in dritter und vierter Generation führen, etwas von den alten Tugenden erhalten. Gebürtige Gablonzer wie der geniale Konstrukteur Ferdinand Porsche und der Pionier der industriellen Glasbearbeitung, Daniel Swarovski, machten es vor.
Die immer wiederkehrende Frage nach dem, wofür die Unternehmen eigentlich stehen, lässt sich angesichts der ungewöhnlich breiten Produktpalette aber nicht eindeutig
Denn es gibt unterschiedliche Wahrnehmungen. Glasperlen, Strass, Cabouchons, Colliers, Broschen und Ohrringe prägen seit jeher den Ruf der Gablonzer Industrie, die vor dem Krieg in unvorstellbaren Mengen mit der „Gablonz“, einem Linienschiff der österreichischen Lloyd, auf der Strecke Triest–Bombay nach Indien gebracht wurden. Konzerne schätzen den Firmenverbund heute als bedeutenden Zulieferer für technische Komponenten und Baugruppen. „In etlichen Betrieben finden sich die beiden Hauptgeschäftsfelder Schmuck und Technik nach wie vor unter einem Dach“, sagt Nölle.
Globalisierung, weltweite Billigkonkurrenz, Konjunkturflauten, aber auch hausgemachte Probleme und Nachfolgesorgen setzten und setzen zwar auch der Gablonzer Industrie zu. Die Zahl der Betriebe ist in Jahrzehnten geschrumpft. Die Umsatzzahlen aller Mitglieder summierten sich für 2018 jedoch auf 263 Millionen Euro, was einem Plus von 1,3 Prozent zum Vorjahr entspricht. Aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor. Jedes Jahr gilt laut Thomas Hübner, einer der drei Verbandschefs, dass sich die Unternehmen auch beim Umsatz eben nicht über einen Kamm scheren lassen. Der Grund: Die beiden Hauptgeschäftsfelder Technik (ein Umsatzplus von 1,6 Prozent in 2018) und Schmuck (minus 3,6 Prozent in 2018) entwickeln sich zunehmend unterschiedlich. Gerade im technischen Bereich sind zudem wenige große Unternehmen die „Umsatzbringer“: Zwei
Drittel des Gesamterlöses entfallen heute auf deren Produkte. Ein Wandel, der laut Nölle zu wenig Anerkennung findet.
Es mag Zufall sein, aber die drei Vorstandsvorsitzenden Thomas Hübner, Peter E. Seibt und Wolfgang Schnabel stehen mit ihren Unternehmen genau für diesen Facettenreichtum und die lange Geschichte der Industrie. Hübner führt einen Spezialbetrieb für Kunststoffspritzguss, Werkzeugbau und Galvanik mit 200 Mitarbeitern in Marktoberdorf (Ostallgäu). Abnehmer der hergestellten und verchromten Bauteile sind die Autoindustrie ebenso wie Hersteller von Sanitär- und Konsumprodukten. „Wir sind breit aufgestellt, das ist uns wichtig“, sagt Hübner. Kürzlich wurden mehr als zehn Millionen Euro in moderne Technologie und einen neuen Firmenkomplex investiert. Begonnen hatte das Unternehmen vor fast 100 Jahren – ganz klassisch mit der Herstellung von Schmuckwaren.
Seibt und sein Unternehmen Friedrich Seibt Glaswarenfabrikation stehen für die vielen kleineren Produzenten von Schmuck und schmückenden Komponenten. Fünf Mitarbeiter fertigen dort Knöpfe, Steine und Perlen aus Glas bis hin zu fertigen Schmuckstücken – Produkte, die sich laut Seibt oft auch in der Haute Couture wiederfinden. Glasbeantworten. linsen aus dem Neugablonzer Betrieb werden ebenso in technischen Produkten verbaut. Stolz ist Seibt, dass in seinem 1929 gegründeten Betrieb die traditionelle Tätigkeit der Glasfabrikation ausgeübt wird – eine Technik in einer Welt aus Feuer und Formen, die nicht mehr viele Mitarbeiter beherrschen. Dennoch betont der Unternehmer: „Wir befassen uns nicht mit der Vergangenheit, sondern mit Gegenwart und Zukunft.“
In Japan zieren Stocknägel mit Bayern-Motiven die Wanderstäbe, das Charivari kommt bei den Amerikanern gut an, und die Barthülsen finden auch in Australien Absatz: Lieferant ist das Unternehmen Artur Schnabel, das auf die Herstellung von Metallprägungen, Schleuderguss, industriellen Handbemalungen sowie Zinnminiaturen spezialisiert ist. Kunden treffen im Sortiment auf den Märchenkönig als Figur in einem königlich-bayerischen Schach. Oder auf die erste deutsche Eisenbahn, die Adler, als fahrbares H0-Modell. „Wir legen vor allem auf naturgetreue Darstellungen Wert“, sagt Firmenchef Wolfgang Schnabel. „In Deutschland als Herstellungsort besetzen wir eine Nische.“40000 Muster für Hut-, Trachten- und Modeschmuck sowie Souvenirs aus der 115-jährigen Geschichte lagern in den Schubladen der Firma mit ihrer 15-köpfigen Belegschaft.
Mit insgesamt 1300 Mitarbeitern in den Unternehmen, hunderten von Heimarbeitern, einem großen Ausbildungsangebot und zahllosen internationalen Beziehungen gehöre die Gablonzer Industrie auch heute zu den wichtigsten Wirtschaftsfaktoren in der Region, sagt Verbandsgeschäftsführer Thomas Nölle. Darüber hinaus gebe es weitere Betriebe, die nicht Mitglieder sind, aber der Gablonzer Industrie zugerechnet werden oder dieser entspringen. Eng verbunden seien viele Unternehmer mit der einzigartigen Staatlichen Berufsfachschule für Glas und Schmuck in Neugablonz und dem Isergebirgsmuseum in der Nachbarschaft, das 400 Jahre deutsche Kultur und Industrie in Nordböhmen, die Vertreibung und den Neubeginn in Neugablonz dokumentiert.
Die Bedeutung für die Region ist immer noch sehr groß