Ein Preis auch als Überlebensgarantie
Berlinale Der iranische Filmemacher Mohammad Rasoulof darf seit 2017 nicht mehr aus seinem Heimatland ausreisen, sieht seine Familie in Hamburg nicht mehr und macht doch weiter: Sein neues Werk kritisiert drastisch die Todesstrafe
Wie die Bilder sich gleichen: Vor fünf Jahren streckte die junge Nichte von Jafar Panahi den Goldenen Bär für den Film „Taxi“in die Höhe, weil der iranische Regisseur nicht zur Preisverleihung ausreisen durfte. Nun ist es die Tochter von Mohammad Rasoulof, die die höchste Auszeichnung der Berlinale für den Film „Es gibt kein Böses“in der Hand hält. Denn auch dieser Preisgewinner aus dem Iran hat Ausreiseverbot. Baran Rasoulof lebt mit ihrer Mutter in Hamburg. Dem Vater wurde, als er 2017 nach der Cannes-Premiere seines Filmes „A Man of Integrity“in den Iran zurückkehrte, der Reisepass entzogen.
Mohammad Rasoulof muss damals geahnt haben, was auf ihn zukommt, aber er entschied sich dazu, weiter in seiner Heimat Filme zu machen. Eine Entscheidung, die er mit der Trennung von seiner Familie bezahlen musste. Auch in der letzten der vier Episoden in „Es gibt kein Böses“geht es um einen Vater, der eine moralische Entscheidung trifft und als Konsequenz daraus von seiner Tochter getrennt leben muss. Baran Rasoulof spielt diese Tochter, die aus Deutschland in den Iran reist und mit einer schmerzhaften Wahrheit konfrontiert wird.
„Es gibt kein Böses“ist nicht nur ein eminent politischer Film, der sich gegen die Todesstrafe im Iran positioniert, sondern auch ein sehr persönliches Werk, in dem ein Regisseur die Folgen seiner politischen Haltung für das eigene Leben thematisiert. Genau an der Nahtstelle zwischen Persönlichem und Politischem hat Rasoulof alle vier Teile seines Episodenfilms positioniert. Der liebende Familienvater, der ein bürgerliches Leben führt, eben noch im Büro den Tee aufgießt, bevor er auf den Knopf drückt, mit dem den Gehängten für immer der Boden unter den Füßen wegklappt. Ein junger Rekrut weigert sich, den Hocker unter den Verurteilten wegzuziehen, und bricht mit Waffengewalt aus dem Gefängnis aus. Ein anderer Militärdienstleistender gehorcht dem Befehl wegen drei versprochener Tage Urlaub, in denen er seiner Liebsten einen Heiratsantrag machen will. Aber deren Familie trauert um einen Freund, der als Dissident hingerichtet wurde.
Mit bezwingender Dramatik und großem Einfühlungsvermögen treibt Rasoulof seine Figuren in moralische Konflikte hinein, die durch die Zwänge eines totalitären Regimes entstehen, das während der letzten fünf Jahre mehr als 2000 Menschen hingerichtet hat. Dem Ensemble und den Produzenten stehen bei der Preisvergabe die Tränen in den Augen. Mit dem Film haben sie etwas gewagt, das ihr Leben im Iran zerstören könnte. Dieser Goldene Bär ist für sie mehr als nur eine Auszeichnung, er bedeutet auch einen gewissen Schutz durch die internationale Aufmerksamkeit.
Aber die Jury um Jeremy Irons hat mit dem Preis für „Es gibt kein Böses“, der erst am letzten Festivaltag gezeigt wurde, nicht nur ein politisches Statement formuliert, sondern in einem äußerst durchwachsenen Wettbewerb den Film mit der größten künstlerischen Dringlichkeit ausgewählt. Zu dieser Preisvergab es auch keine wirkliche Alternative.
Der „Große Preis der Jury“in Form eines Silbernen Bären ging genauso folgerichtig an Eliza Hittman „Never Rarely Sometimes Always“, der eine 17-Jährige aus der Provinz nach New York begleitet, wo diese nach einer ungewollten Schwangerschaft eine Abtreibung vornehmen lassen will. Nah bleibt der Film am Erleben der Jugendlichen, deren Gynäkologin in der Heimatstadt ihr ungefragt Anti-Abtreibungsvideos vorführt, und eröffnet gleichzeitig einen Blick für die sexistischen Alltäglichkeiten, denen eine Teenagerin ausgesetzt ist. Gleichzeitig zeigt der Film das beeindruckend professionelle Einfühlungsvermögen, mit dem sich die Mitarbeiterinnen in der New Yorker Frauenklinik um die Betroffenen kümmern.
Den Silbernen Bären für die beste Regie erhielt der Koreaner Hong
Sang-soo für „Die Frau die rannte“– ein Preis, der wohl auch dem Gesamtwerk des unermüdlichen Filmemachers gilt, von dessen 23 Filmen bereits vier bei der Berlinale gezeigt wurden.
Wie schon so oft wurde auch in diesem Jahr das Gastgeberland mit einem Silbernen Bären für die beste Darstellerin bedacht. 2006 war es Sandra Hüller für „Requiem“, 2007 Nina Hoss für „Yella“, in diesem Jahr ist es verdientermaßen die fabelhafte Paula Beer für „Undine“, in dem sie eine moderne Version des Wasserwesens spielt, das seinem Schicksal entflieht.
Ebenso verdient wurde der italienische Schauspieler Elio Germano für seine brillante Darstellung des Außenseiter-Künstlers Antonio Ligabue in „Hidden Away“ausgezeichnet. Dass die gefeierte deutsche Produktion „Berlin Alexanderplatz“bei der Preisvergabe vollgabe kommen leer ausging, ist sicherlich schmerzhaft, zeigt aber, dass Burhan Qurbanis moderne Adaption von Döblins Romanklassiker wohl im hiesigen Kulturdiskurs eine größere Bedeutung hat als im internationalen Kontext.
Schaut man sich die Liste der prämierten Werke an, so bestätigt sich der Eindruck, den man auch während der Sichtung des Wettbewerbs gewinnen konnte: Der Aufbruch unter der Doppelspitze von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek ist bescheidener ausgefallen, als sich es viele erhofft haben. Das große, künstlerisch provokante Werk findet sich unter den Bären-Gewinnern nicht, welche allesamt auch gut ins Beuteschema der Ära Kosslick gepasst hätten. Es war ein Wettbewerb mit einigen Nieten, vielen passablen, aber kaum herausragenden Werken. Daran konnte die konsequente Arthouse-Ausrichtung und der Verzicht auf Kompromissfilme Made in Hollywood nichts ändern.
Aus dem Grunddilemma, das sich aus der Konkurrenz zu den beiden Festivalplatzhirschen an der
Ein eminent politischer Film und ein sehr persönlicher
Berlin hat nicht die gleiche Anziehungskraft wie Cannes
Côte d’Azur und am Lido ergibt, konnte auch Chadrian nichts ändern. Berlin hat für die großen Namen des Autorenkinos nicht die gleiche Anziehungskraft wie der Gigant in Cannes. Und die US-Studios werden ihre anspruchsvolleren Werke wie zuletzt „Joker“weiterhin lieber in Venedig zeigen, weil dort im September der Startschuss zur Oscar-Rallye gegeben wird, hinter deren Zielgeraden sich die Berlinale im Februar positioniert hat. Dazwischen ein eigenes Profil zu finden, ist eine schwierige Aufgabe, an deren Bewältigung die neue Leitung noch viel zu arbeiten hat.