Ist das alles noch normal?
In Deutschland haben sich 150 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Inzwischen scheint die Angst im Land umzugehen. Großpackungen mit Schutzmasken werden aus Krankenhäusern gestohlen, auf dem Supermarktparkplatz laden Menschen ihre Autos voll
Pfronten/Augsburg Wo sich sonst an einem Montagmorgen Mitarbeiter drängen, herrscht fast schon gespenstische Stille. Rot-weiße Absperrbänder verwehren den Zutritt zum Werksgelände von Deckel Maho in Pfronten. An den Drehkreuzen, die sonst täglich tausende Mitarbeiter passieren, prangt ein weißes, laminiertes Schild. „Betriebsschließung vom 01.03.2020 bis 03.03.2020“heißt es darauf lapidar. Als sich ein Mann der Werksschranke nähert, lichtet sich die Jalousie an der Pforte. Ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes lugt hindurch und weist den Herrn freundlich, aber bestimmt zurück. „Sie dürfen das Firmengelände nicht betreten.“
Man kann es zweifelsohne einen Ausnahmezustand nennen, der beim Maschinenbauer herrscht, seit klar ist, dass sich ein Mitarbeiter mit dem Coronavirus infiziert hat. Fast alle der 1586 Mitarbeiter sind zu Hause geblieben. Nur die Werksfeuerwehr ist vor Ort, falls ein Mitarbeiter nichts von der Schließung mitbekommen haben sollte oder Lkw ankommen. Drinnen hat sich ein kleiner Krisenstab zusammengefunden. Nur, dass die Firma im laufenden Austausch mit den Behörden steht, ist zu erfahren. Wie es nach der zweitägigen Schließung weitergeht, weiß zumindest offiziell bislang noch niemand.
Wochenlang war das Coronavirus ein Thema, das man in den Nachrichten verfolgte. Es gab die ersten Fälle Ende Januar rund um den Stockdorfer Automobilzulieferer Webasto. Aber die waren klar einzugrenzen. Dann grassierte das Virus über Wochen in einem anderen Teil der Welt – in China, Südkorea, Hongkong. Bis es Norditalien erreichte. Und dann Deutschland.
In Pfronten haben sie es schon geahnt, dass das Coronavirus irgendwann auch am Standort, der zum DMG Mori Konzern gehört, ankommen würde. Sagt einer der Mitarbeiter, der die Werksschließung gelassen nimmt. „Wir sind mit Japan verbunden und haben mehrere Standorte in Asien und Italien.“So mancher habe aufgrund der Inkubationszeit ausgerechnet, dass es 14 Tage nach der Hausausstellung und damit Ende Februar oder Anfang März losgehen könnte. Das Unternehmen hatte im Vorfeld versucht, Risiken zu minimieren und Kunden aus China und Taiwan von der Ausstellung ausgeladen. Mitarbeiter durften nicht nach China reisen.
Das Virus aber hat einen anderen Weg nach Pfronten gefunden. Der 36-jährige Deckel-Maho-Mitarbeiter, der am Samstagabend positiv getestet worden war, war zuvor in der Nähe der Risikoregionen in Italien auf Dienstreise. Dass er nach der Rückkehr trotz Erkältungssymptomen an seinem Arbeitsplatz erschien, versteht so mancher hier nicht. Ob er dabei andere Kollegen ansteckte, ist wie so vieles noch unklar. Nur seine 33-jährige Partnerin wurde bislang ebenfalls positiv getestet. Beide sind in ihrer Wohnung in Füssen in häuslicher Quarantäne.
15 berufliche und private Kontaktpersonen, bei denen ein relevantes Infektionsrisiko besteht, hat das Gesundheitsamt im Ostallgäu ermittelt. Sie bleiben zu Hause, bis das Testergebnis vorliegt. Bei weiteren Kontaktpersonen wie Mitarbeitern in Pfronten gehe man von keinem erhöhten Risiko aus. Sie sollten erst, wenn sie Symptome feststellen, mit einem Arzt oder einer Klinik telefonisch Kontakt aufnehmen. Es gebe auch keinen medizinisch vertretbaren Grund, dass Mitarbeiter nicht zur Arbeit gehen, Kinder der Schule oder dem Kindergarten fernbleiben, sofern sie nicht zu den engen Kontakten des Betroffenen gehören, betont das Gesundheitsamt und ruft zu auf. Das ist schon deswegen bemerkenswert, weil in Deutschland in diesen Tagen die Angst vor Corona umgeht. Panik, sagen manche sogar. Der eine weicht unwillkürlich einen Schritt zurück, wenn an der Bushaltestelle jemand hustet. Der andere dichtet dem verschnupften Kollegen das Virus an. Dabei treffe jede normale Grippewelle mehr Menschen, wurde über Wochen argumentiert. Aber seit einigen Tagen ist die Situation ernster. Seit zu hören ist, dass es bei Atemmasken Lieferengpässe gibt. Seit empfohlen wird, dass sich selbst Gottesdienstbesucher nicht mehr die Hand zum Friedensgruß geben. Seit wichtige Messen abgesagt werden: Am Montagabend kam auf Druck der bayerischen Regierung das Aus für die diesjährige Münchner Handwerksmesse, zuvor platzte die Reisemesse ITB in Berlin ebenso wie die Grindtec in Augsburg.
Nur: Wie begründet ist diese Angst, die nun um sich greift? Die dazu führt, dass Großpackungen mit Schutzmasken gestohlen werden, wie in einem Krankenhaus in Niedersachsen? Oder Desinfektionsflaschen in öffentlichen Spendern geklaut werden, Beispiel Duisburg?
Wer Angst hat, tendiert dazu, sich nicht mehr rational zu verhalten. Deshalb hat Ralph Hertwig, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und spezialisiert auf die Psychologie des Risikos, einen wichtigen Tipp: Er rät allen, die sich Sorgen machen,
Risiko, das durch das Coronavirus entstanden ist, nüchtern in Relation zu anderen Gefahren zu setzen. „Letzte Woche kam in den Nachrichten die Meldung, dass es 2019 in Deutschland 3059 Verkehrstote gegeben hat.“Nehme man die Sterblichkeitsrate wegen des Coronavirus als Grundlage, müssten sich 152 000 Menschen infizieren, um auf eine ähnliche Zahl an Todesopfern zu kommen. „Trotzdem ist das Risiko, im Straßenverkehr zu sterben, Teil unseres alltäglichen Lebens geworden – das haben wir akzeptiert.“
Ob auch das Coronavirus eine Gefahr wird, an die sich die Gesellschaft gewöhnt, eine Krankheit wie jede andere, hänge viel von den Entwicklungen der kommenden Wochen und Monate ab. „Wenn es sich zu einer großen Epidemie ausbreitet, wird uns das Coronavirus ähnlich wie die spanische Grippe noch über viele Jahrzehnte im kollektiven Bewusstsein begleiten“, sagt Hertwig. Sobald das Virus allerdings wissenschaftlich als beherrschbar eingestuft wird, werde auch diese Gefahr Teil des normalen Lebens werden, ganz ähnlich der Grippe.
Das Gefühl des Kontrollverlustes durch das neue Virus könne bekämpft werden, indem konkrete Handlungsanweisungen befolgt werden, sagt Hertwig. Dazu gehört regelmäßiges Händewaschen oder das Vermeiden von Körperkontakt in öffentlichen Verkehrsmitteln. Leichter tue sich zudem, wer sich konkret vorstellt, was wirklich pasBesonnenheit sieren könnte. Denn selbst im schlimmsten Fall, einer häuslichen Quarantäne, sei es nur notwendig, Lebensmittel für 14 Tage zu haben, eben nicht für acht Wochen.
Emel Küpeli ist vorbereitet für den Fall der Fälle. Vormittags um halb zehn schichtet sie auf einem Kaufland-Parkplatz in Augsburg den Kofferraum ihres Familienkombis voll. Mehl auf Mehl, dazu mehrere Flaschen Öl, Waschmittel, zwei Sechserpacks Cola – und Chlorreiniger, der in Küche und Bad alles tötet, was Keim ist. Das eigene Zuhause als Risikogebiet? So ganz rational kann sie den Kauf nicht begründen. Sie habe eigentlich gar keine große Angst vor dem Virus, sagt die zierliche Frau mit dem blond gesträhnten Haar und taucht aus den Tiefen des Kofferraums auf. „Aber ich treffe Vorsichtsmaßnahmen, falls meine Familie in Quarantäne zu Hause bleiben muss.“Jetzt muss sie noch zum Drogeriemarkt – Desinfektionsmittel kaufen.
Kaufland, Lidl, Aldi – im Augsburg ist es überall dasselbe Bild. Schon vormittags klaffen meterbreite Löcher in den Regalreihen. Nudeln, Reis, Tomatendosen, Mehl, Zucker, Toastbrot: Meist verraten nur noch die Preisschilder, was dort stand. Wer an diesem Montag erst mit seinen Hamsterkäufen beginnt, muss sich auch mit dreilagigem Toilettenpapier begnügen. Die Version mit vier Schichten fehlt fast überall. Sie ist, wie Nudeln, in Coronazeiten zum Luxusgut geworden. Die Firdas menzentrale von Lidl spricht auf Nachfrage von „deutlich erhöhten Abverkäufen“. Besonders Artikel aus dem Trockensortiment und aus dem Hygienebereich würden aktuell stark nachgefragt. Aldi Süd hatte schon vergangene Woche von einem verstärkten Bedarf berichtet. Aus der Kaufland-Zentrale heißt es, dass „in einigen Filialen“Grundnahrungsmittel und Hygieneprodukte besonders begehrt seien. „Aufgrund unseres großen Sortiments ist die Warenversorgung jedoch grundsätzlich gewährleistet.“
Im Klartext heißt das: Selbst wenn sich das Coronavirus weiter verbreitet, werden die Menschen in Deutschland nicht hungern müssen. Denn die Regale in Supermärkten werden in der Regel täglich wieder aufgefüllt – und noch sind die Lager offenbar gut bestückt. Der Handelsverband Deutschland betont, die Lieferstrukturen seien effizient und die Händler gut vorbereitet.
Vor der Kaufland-Filiale in Augsburg lädt ein Rentnerpaar einen Karton Sonnenblumenöl auf den Rücksitz. Hamsterkauf? Die Seniorin – grauer Kurzhaarschnitt, eher der resolute Typ – macht eine wegwerfende Handbewegung und lacht spitz auf. „Nein, Sonderangebot.“Die Sache mit Corona sei „viel zu übertrieben“, sagt die Augsburgerin und schüttelt den Kopf. „In Deutschland wird es immer genug zu essen geben, jeder hat genügend daheim“, fügt ihr Mann hinzu. Wohin das führt? „Am Ende braucht man die Vorräte doch nicht, das Mindesthaltbarkeitsdatum läuft ab und die Hälfte landet im Müll.“
Und es ist ja nicht nur das, meint Risiko-Experte Hertwig. Hamsterkäufe bergen die Gefahr, dass sich eine Spirale der Unsicherheit in Gang setzt. „Das Verhalten der anderen wird zum Signal für uns selbst“, sagt der Wissenschaftler. „Die Menschen gehen in den Supermarkt und sehen, dass manche Produkte ausverkauft sind. Sie können sich dieser Dynamik dann gar nicht entziehen, darüber nachzudenken, ob sie diese Sachen nicht auch brauchen.“Da finde ein sozialer Selbstverstärkungsprozess statt. Eine Mutter, die gerade vom Einkaufen kommt, hat sich genau dabei ertappt. „Eine Freundin hat für 700 Euro Vorräte gekauft“, erzählt die Frau um die 40. Jetzt lädt sie selbst mehrere Gläser Oliven und ein halbes Dutzend Tüten Nudeln in ihren Wagen. Mit einem verlegenen Lächeln gesteht sie: „Normalerweise würde ich nur eine kaufen.“Aber normal ist ja gerade kaum etwas.
Der Mann, der diese Krise managen soll, hat sich vorgenommen, jede aufkommende Panik im Keim zu ersticken. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn trommelte namhafte Professoren zusammen, die Vertrauen und Sicherheit schaffen sollen. Ihre Botschaft: Deutschland ist gut vorbereitet und das Virus nicht die neue Pest. „Diese Erkrankung ist eine milde Erkrankung. Es ist eine Erkältung. Die ist für den einzelnen in der Regel gar kein Problem“, sagt der Chefvirologe der Berliner Charité, Christian Drosten. Er hatte zur einen Seite des Ministers Platz genommen, auf der anderen sitzt Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Institutes, das hierzulande für die Bekämpfung von Infektionskrankheiten zuständig ist. Er hat Positives aus China zu vermelden. „Es ist so, dass die Fälle runtergehen.“
Drosten hatte für Wirbel gesorgt mit der Prognose, dass sich 70 Prozent der Deutschen mit dem Erreger anstecken werden. „Das ist etwas
Wer Angst hat, handelt oft nicht mehr rational
Vierlagiges Toilettenpapier ist zum Luxusgut geworden
ganz Natürliches und auch gar nichts Schlimmes“, sagt er jetzt. Weil dadurch die Bevölkerung immunisiert werde. Wer einmal das Virus in sich habe, bilde Abwehrkörper. Drosten sieht die Zahlen mit dem kalten Blick des Wissenschaftlers, der das gesamte Land im Blick haben muss. Er räumt zugleich ein, dass er überrascht davon gewesen sei, welche Angst die von ihm genannte Zahl ausgelöst habe. Etwa 0,3 bis 0,7 Prozent der Erkrankten sterben nach den bisherigen Erkenntnissen der Ärzte an dem Virus.
Für die Forscher ist es entscheidend, dass sich die Seuche nicht rasend schnell ausbreitet, damit das Gesundheitssystem nicht zusammenbricht. Dieses Szenario droht, wenn die Virusgrippe am Ende des Winters noch einmal richtig zuschlagen würde. Die Zeit für radikale Maßnahmen aber sieht Spahn noch nicht gekommen. Er hält auch nichts davon, Städte abzuriegeln. Und es sei in der jetzigen Lage wenig sinnvoll, den Firmen allgemeine Vorgaben zu machen, ob sie ihre Mitarbeiter für eine gewisse Zeit nach Hause schicken sollen. Die Firmen müssten das selbst entscheiden.
Bei Deckel Maho nehmen die Mitarbeiter die Situation gelassen. „Dann kann ich endlich mal meine Steuererklärung aufarbeiten“, erklärt einer. Ein anderer sagt, er habe keine Angst vor Corona. „Das Virus schlägt zu, ob ich Angst habe oder nicht.“Infizieren könne man sich schließlich auf vielerlei Art. Jedenfalls möchte er nicht in der Haut der Firmenchefs stecken, die entscheiden müssen, wie es nach der zweitägigen Firmenschließung weitergeht. Denn es koste viel Geld, wenn die Produktion stillsteht. Und die Unsicherheit wird nicht weniger.