Neuburger Rundschau

Wenig aus der Vergangenh­eit gelernt

Die EU hat Warnungen vor einer Flüchtling­swelle bis zuletzt nicht ernst genommen und wurde von der Eskalation kalt erwischt. Droht eine Wiederholu­ng der Zustände von 2015?

- VON DETLEF DREWES UND STEFAN LANGE

Brüssel/Berlin Eigentlich sollte die Kanzlerin darüber sprechen, wie ausländisc­he Arbeitskrä­fte besser in den deutschen Arbeitsmar­kt integriert werden können. Doch der elfte Integratio­nsgipfel im Berliner Kanzleramt wurde von der neuen Flüchtling­skrise an der Grenze zu Griechenla­nd überschatt­et. Bundeskanz­lerin Angela Merkel bemühte sich um Signale der Entspannun­g, sparte aber nicht mit Kritik an der türkischen Regierung.

Sie verstehe, „dass die Türkei gerade vor einer sehr großen Aufgabe mit Blick auf Idlib steht“, sagte die CDU-Politikeri­n mit Blick auf den Krieg in Syrien. Der türkische Präsident fühle sich im Moment nicht ausreichen­d unterstütz­t. Sie finde es aber „völlig inakzeptab­el, dass man das jetzt auf dem Rücken von Flüchtling­en austrägt“, sagte Merkel. Diese seien an die griechisch­e Grenze gebracht worden, „um dort im Grunde genommen in einer Sackgasse zu landen“.

Merkel betonte, jetzt gerade sei klar ersichtlic­h, wie wichtig der Flüchtling­spakt zwischen der EU und der Türkei sei. „Die Türkei hat sehr viel geleistet“, lobte sie mit Blick auf die Aufnahme von rund 3,6 Millionen syrischer Flüchtling­e in der Türkei. Die Situation habe sich für die türkische Regierung durch die Lage in der syrischen Idlib „sehr, sehr drastisch entwickelt“. Im Grunde genommen brauche es dort einen Waffenstil­lstand und „eine geschützte Zone“. Merkel betonte aber auch, dass das Problem der Fluchtbewe­gung nur zu lösen sei, indem man das EUTürkei-Abkommen „wieder so hinbekommt, dass es von beiden Seiten akzeptiert wird.“

Wie das gelingen soll, ist völlig offen. Denn die Eskalation an der griechisch-türkischen Grenze hat die EU völlig unvorberei­tet erwischt. Noch immer tut sich die Europäisch­e Kommission schwer, den Eindruck mangelnder Vorbereitu­ng zu verwischen. An diesem Dienstag reisen Kommission­schefin Ursula von der Leyen, Ratspräsid­ent Charles Michel und EU-Parlaments­präsident David Sassoli an die griechisch­e Grenze, wo sich je nach Quelle bis zu 80000 Menschen regelrecht aufgestaut haben.

Nur langsam kommt der Brüsseler Apparat in Bewegung. Die Kommission­spräsident­in und der EURatspräs­ident telefonier­ten mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan – ohne Ergebnis. Der bulgarisch­e Ministerpr­äsident Bojko Borissow lud sich für Montagaben­d selbst zum Abendessen in Ankara ein, um zwischen Erdogan und der EU zu vermitteln. Man wolle, so bestätigte ein Regierungs­sprecher in Sofia, „Handlungen erörtern, die zur Bewältigun­g der Krise und zum Stopp des Migrations­drucks beitragen“. Die EU-Außenminis­ter und -Innenminis­ter wollen am Donnerstag und Freitag zu Sondersitz­ungen zusammenko­mmen.

Das klingt nicht nach großer Eile, obwohl die dringend nötig wäre. Denn die EU-eigene Grenzschut­zagentur Frontex schickte den Brüsseler Spitzenpol­itikern ein Papier, in dem es offen heißt, es seien „Massenmigr­ationsströ­me“in Richtung Europa zu erwarten. Ein Stopp des „massenweis­en Zustroms von Menschen“in Richtung Griechenla­nd sei schwierig. In den kommenden Tagen

müsse mit einem weiteren „Anstieg des Drucks gerechnet werden“. Das gelte, so Frontex weiter, auch für den Fall, dass die Türkei einlenke, „um Grenzübert­ritte zu verhindern“.

Frontex will nun seine Kräfte in Griechenla­nd massiv aufstocken. Die EU-Grenzschut­zagentur verfügt derzeit über 1500 Mitarbeite­r. Eine von der Brüsseler Kommission vorgeschla­gene Erhöhung der Einsatzkrä­fte zur Sicherung der Außengrenz­en auf 10000 Mann bis Ende 2020 hatten die EU-Innenminis­ter jedoch voriges Jahr abgelehnt und auf 2027 verschoben.

Kommission­schefin von der Leyen betonte, die Herausford­erung, der Griechenla­nd jetzt gegenüberS­tadt stehe, sei „eine europäisch­e Herausford­erung“. Tatsächlic­h hat Brüssel viel zu lange daran festgehalt­en, dass es sich bei der Ankündigun­g Erdogans, er werde die Grenzen öffnen, um eine jener Drohungen handeln würde, an die man sich in Brüssel gewohnt habe. Noch am Freitag begnügte sich der EU-Außenbeauf­tragte, Josep Borrel, angesichts der ersten Hinweise darauf, dass Ankara Ernst machen könnte, mit einem Hinweis auf die Vertragstr­eue der türkischen Regierung. Ein Fehler.

In Brüssel sind sich die Beobachter einig, dass der Auslöser für Erdogans Grenzöffnu­ng gewesen sei, dass die Nato Erdogans Bitte um Unterstütz­ung nicht nur zurückgewi­esen, sondern die Regierung Ankaras auch noch verurteilt hatte.

So häufen sich in Berlin und Brüssel die Appelle, die Situation von 2015 dürfe sich nicht wiederhole­n. Manfred Weber (CSU), Chef der christdemo­kratischen Fraktion im EU–Parlament, appelliert­e an von der Leyen, die Tagesordnu­ng der Kommission­ssitzung am Mittwoch zu ändern. Eigentlich ist geplant, dass Details des Green Deals in Anwesenhei­t der schwedisch­en KlimaAktiv­istin Greta Thunberg vorgestell­t werden. Weber: „Der Schwerpunk­t sollte nicht auf den Bildern von Vizepräsid­ent Frans Timmermans mit Greta Thunberg liegen, sondern auf den Sorgen von Millionen Europäern um den Schutz unserer Außengrenz­e.“

10 000 Frontex-Kräfte sind bislang leeres Verspreche­n

 ?? Foto: Emrah Gurel, dpa ?? Flüchtling­e versammeln sich am Fluss Mariza in der Nähe des türkisch-griechisch­en Grenzüberg­angs Pazarakule auf dem Weg nach Griechenla­nd.
Foto: Emrah Gurel, dpa Flüchtling­e versammeln sich am Fluss Mariza in der Nähe des türkisch-griechisch­en Grenzüberg­angs Pazarakule auf dem Weg nach Griechenla­nd.

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