Wenig aus der Vergangenheit gelernt
Die EU hat Warnungen vor einer Flüchtlingswelle bis zuletzt nicht ernst genommen und wurde von der Eskalation kalt erwischt. Droht eine Wiederholung der Zustände von 2015?
Brüssel/Berlin Eigentlich sollte die Kanzlerin darüber sprechen, wie ausländische Arbeitskräfte besser in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden können. Doch der elfte Integrationsgipfel im Berliner Kanzleramt wurde von der neuen Flüchtlingskrise an der Grenze zu Griechenland überschattet. Bundeskanzlerin Angela Merkel bemühte sich um Signale der Entspannung, sparte aber nicht mit Kritik an der türkischen Regierung.
Sie verstehe, „dass die Türkei gerade vor einer sehr großen Aufgabe mit Blick auf Idlib steht“, sagte die CDU-Politikerin mit Blick auf den Krieg in Syrien. Der türkische Präsident fühle sich im Moment nicht ausreichend unterstützt. Sie finde es aber „völlig inakzeptabel, dass man das jetzt auf dem Rücken von Flüchtlingen austrägt“, sagte Merkel. Diese seien an die griechische Grenze gebracht worden, „um dort im Grunde genommen in einer Sackgasse zu landen“.
Merkel betonte, jetzt gerade sei klar ersichtlich, wie wichtig der Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei sei. „Die Türkei hat sehr viel geleistet“, lobte sie mit Blick auf die Aufnahme von rund 3,6 Millionen syrischer Flüchtlinge in der Türkei. Die Situation habe sich für die türkische Regierung durch die Lage in der syrischen Idlib „sehr, sehr drastisch entwickelt“. Im Grunde genommen brauche es dort einen Waffenstillstand und „eine geschützte Zone“. Merkel betonte aber auch, dass das Problem der Fluchtbewegung nur zu lösen sei, indem man das EUTürkei-Abkommen „wieder so hinbekommt, dass es von beiden Seiten akzeptiert wird.“
Wie das gelingen soll, ist völlig offen. Denn die Eskalation an der griechisch-türkischen Grenze hat die EU völlig unvorbereitet erwischt. Noch immer tut sich die Europäische Kommission schwer, den Eindruck mangelnder Vorbereitung zu verwischen. An diesem Dienstag reisen Kommissionschefin Ursula von der Leyen, Ratspräsident Charles Michel und EU-Parlamentspräsident David Sassoli an die griechische Grenze, wo sich je nach Quelle bis zu 80000 Menschen regelrecht aufgestaut haben.
Nur langsam kommt der Brüsseler Apparat in Bewegung. Die Kommissionspräsidentin und der EURatspräsident telefonierten mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan – ohne Ergebnis. Der bulgarische Ministerpräsident Bojko Borissow lud sich für Montagabend selbst zum Abendessen in Ankara ein, um zwischen Erdogan und der EU zu vermitteln. Man wolle, so bestätigte ein Regierungssprecher in Sofia, „Handlungen erörtern, die zur Bewältigung der Krise und zum Stopp des Migrationsdrucks beitragen“. Die EU-Außenminister und -Innenminister wollen am Donnerstag und Freitag zu Sondersitzungen zusammenkommen.
Das klingt nicht nach großer Eile, obwohl die dringend nötig wäre. Denn die EU-eigene Grenzschutzagentur Frontex schickte den Brüsseler Spitzenpolitikern ein Papier, in dem es offen heißt, es seien „Massenmigrationsströme“in Richtung Europa zu erwarten. Ein Stopp des „massenweisen Zustroms von Menschen“in Richtung Griechenland sei schwierig. In den kommenden Tagen
müsse mit einem weiteren „Anstieg des Drucks gerechnet werden“. Das gelte, so Frontex weiter, auch für den Fall, dass die Türkei einlenke, „um Grenzübertritte zu verhindern“.
Frontex will nun seine Kräfte in Griechenland massiv aufstocken. Die EU-Grenzschutzagentur verfügt derzeit über 1500 Mitarbeiter. Eine von der Brüsseler Kommission vorgeschlagene Erhöhung der Einsatzkräfte zur Sicherung der Außengrenzen auf 10000 Mann bis Ende 2020 hatten die EU-Innenminister jedoch voriges Jahr abgelehnt und auf 2027 verschoben.
Kommissionschefin von der Leyen betonte, die Herausforderung, der Griechenland jetzt gegenüberStadt stehe, sei „eine europäische Herausforderung“. Tatsächlich hat Brüssel viel zu lange daran festgehalten, dass es sich bei der Ankündigung Erdogans, er werde die Grenzen öffnen, um eine jener Drohungen handeln würde, an die man sich in Brüssel gewohnt habe. Noch am Freitag begnügte sich der EU-Außenbeauftragte, Josep Borrel, angesichts der ersten Hinweise darauf, dass Ankara Ernst machen könnte, mit einem Hinweis auf die Vertragstreue der türkischen Regierung. Ein Fehler.
In Brüssel sind sich die Beobachter einig, dass der Auslöser für Erdogans Grenzöffnung gewesen sei, dass die Nato Erdogans Bitte um Unterstützung nicht nur zurückgewiesen, sondern die Regierung Ankaras auch noch verurteilt hatte.
So häufen sich in Berlin und Brüssel die Appelle, die Situation von 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Manfred Weber (CSU), Chef der christdemokratischen Fraktion im EU–Parlament, appellierte an von der Leyen, die Tagesordnung der Kommissionssitzung am Mittwoch zu ändern. Eigentlich ist geplant, dass Details des Green Deals in Anwesenheit der schwedischen KlimaAktivistin Greta Thunberg vorgestellt werden. Weber: „Der Schwerpunkt sollte nicht auf den Bildern von Vizepräsident Frans Timmermans mit Greta Thunberg liegen, sondern auf den Sorgen von Millionen Europäern um den Schutz unserer Außengrenze.“
10 000 Frontex-Kräfte sind bislang leeres Versprechen