Neuburger Rundschau

„Aus ganz viel Mist ist ganz viel Gutes entstanden“

Kristina Vogel war die beste Bahnradfah­rerin der Welt, sie gewann elf WM-Titel und zweimal Olympia-Gold. Dann kollidiert­e sie im Training mit einem anderen Fahrer und sitzt seitdem im Rollstuhl. Ihren Lebensmut hat sie nicht verloren. Ganz im Gegenteil

- Interview: A. Kornes

Sie waren bei der Bahnrad-WM in Berlin als TV-Expertin im Einsatz. Emma Hinze hat dreimal Gold geholt, so wie Sie 2014. Insgesamt gab es acht Medaillen für das deutsche Team, acht davon holten die Frauen. Wie fällt Ihr Fazit aus?

Kristina Vogel: Ich hätte es mir nicht besser erhoffen können. Die Mädels sind in einer sensatione­llen Form gewesen. Wir haben atemberaub­ende Leistungen gesehen.

Wie wichtig ist es Ihnen, weiterhin Teil des Ganzen zu sein? Jetzt eben aus der Perspektiv­e einer TV-Expertin ... Vogel: Natürlich sehr. Ich brenne dafür. Ich glaube, dass ich der Sportart noch etwas zu geben habe. So lange man mich da noch haben will und noch hören möchte, versuche ich, mein Wissen und meine Erfahrung weiterzuge­ben.

Werden Sie auch bei den Olympische­n Sommerspie­len in Tokio als Expertin dabei sein?

Vogel: Ja, ich bin für das ZDF dabei. Wir schauen gerade, wie wir es genau machen. Aber geplant ist es, die kompletten Spiele da zu sein. Meine Vorfreude ist riesig. Der Traum von Tokio bleibt. Ich kann ihn mir erfüllen, nur eben ein bisschen anders.

Sie engagieren sich neben dem Bahnradspo­rt auch in der Politik. Seit dem vergangene­n Sommer sitzen Sie als Parteilose für die CDU im Stadtrat von Erfurt. Einer Ihrer Themenschw­erpunkte ist die Inklusion. Wie haben Sie sich als Stadträtin eingelebt? Vogel: Erst einmal ging es ja darum zu schauen, wie das alles funktionie­rt. Zum Beispiel, wie man einen Antrag stellt. Wo geht das hin? Wie wird das diskutiert? Das ist alles neu für mich gewesen. Als Athlet ist man unheimlich zielorient­iert. Für jedes Problem will man sofort eine Lösung. So war ich in der Politik am Anfang auch. Ich musste dann aber lernen und verstehen, warum es manchmal so lange dauert, bis es eine Lösung gibt. Demokratie bedeutet eben, dass man sich gegenseiti­g anhört. Auch andere Meinungen. Manchmal denkt man ja, dass die eigene Meinung die einzig richtig ist. Dann hört man eine andere und stellt fest: Ja, das ist auch eine gute Sicht der Dinge. Deswegen dauert Politik manchmal etwas länger, als man es sich wünschen würde.

Politik ist die Suche nach Kompromiss­en. Im Leistungss­port geht man nur sehr ungern Kompromiss­e ein ... Vogel: Im Sport hast du nur eine Richtung und ein Ziel: irgendwann

Goldmedail­le zu gewinnen. In der Politik muss es manchmal um die Ecke gehen, um dann das richtige Ergebnis zu erreichen für die Stadt. Manchmal ist es auch nicht das beste Ergebnis, sondern eben das beste demokratis­che Ergebnis.

Macht Ihnen Politik Spaß?

Vogel: Zunehmend, ja. Manchmal denkst du dir schon: Ach Gott, warum diskutiere­n wir hier jetzt schon wieder so lange. Da kommt dann der Athlet wieder durch. Es ist aber auch schön, weil ich meine Heimat noch einmal anders kennen lerne. Mit so vielen Facetten, die man vorher gar nicht wahrgenomm­en hat.

Ärgert es Sie als Lokalpolit­ikerin, dass es auf Landes- und Bundeseben­e momentan derart drunter und drüber geht? Auslöser der jüngsten Turbulenze­n war ja Ihr Heimatland Thüringen, wo es sich schwierig gestaltet, eine neue Regierung hinzubekom­men. Bekommen Sie das auch zu spüren?

Vogel: Ich bin ganz froh, dass man mich dann doch noch eher als Athletin sieht und nicht als Politikeri­n. Ich bin da also verschont geblieben. Meine Stadtratsp­artei hat aber schon richtig böse Kommentare bekommen. „Steigbügel­halter des Faschismus“und so weiter. Es macht in Thüringen gerade keinen Spaß, Politik zu machen. Das ist alles wie im Kindergart­en. Manchmal ist die Mehrheit eben dort, wo es sich für einen persönlich nicht am besten anfühlt. Für mich war der Bürgerwill­e, dass wir keine Mehrheit haben. Ich verstehe nicht, dass man davor Angst hat. Klar ist eine Mehrheitsr­egierung komfortabl­er. Aber auch ohne kann es funktionie­ren, dafür gibt es jede Menge Beispiele. Man muss halt zu jedem Thema Mehrdie

● Kristina Vogel, 29, ist in Kirgistan geboren und kam mit ihren Eltern im Alter von sechs Monaten nach Deutschlan­d. Sie wuchs in Erfurt auf und begann den Bahnradspo­rt mit zehn Jahren. Seit 2009 ist sie mit Michael Seidenbech­er liiert.

● 2009 war sie zum ersten Mal in einen schweren Unfall verwickelt. Auf der Straße wird sie von einem Kleintrans­porter erfasst und erleidet einen doppelten Kieferbruc­h, Brüche an der Halswirbel­säule und an den Handwurzel­knochen.

● Vogel kämpft sich zurück, wird 2012 erstmals Weltmeiste­rin (im heiten sammeln. Das ist mühsam. Politik ist manchmal emotional. Ich würde mir wünschen, dass man bisweilen erst einmal durchatmet und überlegt, welche Schritte man unternimmt. Ich hoffe, dass man einen guten Weg findet für Thüringen.

In den Sozialen Netzwerken weisen Sie immer wieder auf Missstände­n in der Gesellscha­ft im Umgang mit Menschen mit Behinderun­g hin. Sei es die Bahn, die es nicht schafft, Sie und ihren Rollstuhl zu transporti­eren. Seien es Autofahrer, die auf Behindertp­ark

Teamsprint mit Miriam Welte), ehe das Duo in London auch Olympia-Gold gewinnt. 2016 wird sie in Rio Olympiasie­gerin im Sprint, insgesamt holt sie elf WM-Titel.

● Am 26. Juni 2018 kollidiert Vogel im Training mit einem niederländ­ischen Fahrer und stürzt schwer. Ihr Rückenmark ist seitdem am siebten Brustwirbe­l durchtrenn­t, sie ist ab der Brust abwärts querschnit­tgelähmt.

● Eine ARD-Dokumentat­ion hat sich mit Vogels Schicksal beschäftig­t. Zu finden ist der Film mit dem Titel „Aufstehen im Sitzen“in der ARD-Mediathek. (ako) plätzen stehen. Sehen Sie sich als Vorkämpfer­in für die Rechte von Menschen mit Behinderun­g?

Vogel: Ich hasse Ungerechti­gkeit. Ich habe durch meinen Unfall eine laute Stimme bekommen. Und die möchte ich nutzen, so lange man mich noch hört. Wenn ich zum Beispiel mit dem Parkplatz-Thema zwei Menschen erreichen kann, die da beim nächsten Mal nicht mehr parken, dann sind das zwei weniger als vorher. Dann ist was gewonnen.

Wie sind denn die Reaktionen auf solche Aktionen?

Vogel: Mal so, mal so. Es gab natürlich welche die mir geschriebe­n haben, sie hätten im Bekanntenk­reis Freunde, die abends auf Behinderte­nparkplätz­en parken. Denn es gebe ja keine Rollstuhlf­ahrer, die abends in den Klub oder in die Bar gehen. Ich frage mich dann: Warum denken die so? Oft liegt es daran, dass sie keinen Kontakt zu Menschen im Rollstuhl haben. Und die meisten Klubs sind ja tatsächlic­h nicht barrierefr­ei. Es ist für mich ein Problem der Inklusion. Wenn die Fußgänger keinen Kontakt zu irgendeine­r Form von Behinderun­g haben, dann kann das Bewusstsei­n dafür gar nicht wachsen. Und wenn ich keine Kontaktpun­kte in die Mitte der Gesellscha­ft habe, dann bin ich frustriert und fühle mich benachteil­igt. Das ist ein hartes Spannungsf­eld, was da entstehen kann.

Was nervt Sie mehr: Mitleid oder Ignoranz?

Vogel: Ich glaube Ignoranz. Mitleid ist ja irgendwie ein Bedürfnis, mir zu helfen. Auch wenn ich so selbstbewu­sst und stark bin, dass ich das schon schaffe. Der Rollstuhl ist keine Strafe, sondern Teil meines Lebens. Das kann jedem passieren. Ignoranz dagegen tut weh. Es gibt eben Leute, die brauchen Hilfe, um an der Gesellscha­ft teilnehmen zu können. Wenn das jemand ignoriert und sich das Recht heraus nimmt, damit falsch zu liegen – das ist frech. Das ist egoistisch auf eine böse Art. Es gibt den Spruch: Tue jeden Tag eine gute Tat. In so einer Gesellscha­ft will ich leben.

Hilft Ihnen das Leben und Trainieren als Spitzenspo­rtlerin, mit Ihrer jetzigen Situation zurechtzuk­ommen? Vogel: Was man als Athlet lernt ist, dass das Ergebnis schon kommt, wenn man dran bleibt. Im Sport ist das natürlich besser messbar als im Alltag. Aber das Prinzip ist das gleiche: Wenn man etwas möchte und dafür investiert, dann kann das funktionie­ren.

Gibt es trotzdem noch Momente, in denen Sie mit Ihrem Schicksal hadern? Vogel: Diese Momente hatte ich eigentlich nie. Natürlich gibt es immer mal Situatione­n, in denen dich das alles nervt. Ich bin auch keine Maschine und habe mal schwache Momente. Aber alles in allem sage ich: Aus ganz viel Mist ist ganz viel Gutes entstanden.

Ihr Unfall ereignete sich im Juni 2018. Ist das Ermittlung­sverfahren der Polizei schon abgeschlos­sen?

Vogel: Nein. Das läuft immer noch.

Stört es Sie, dass das so lange dauert? Vogel: Ein Stück weit ist es mir egal. Es wäre aber natürlich auch schön, wenn man die Situation ganz rekonstrui­eren und die Lücke in meinem Kopf schließen könnte. Anderersei­ts mache ich eine für Außenstehe­nde sehr schwer zu verstehend­e Sportart. Die Ermittlung­sbehörden versuchen, den Unfall so zu ermitteln, dass jemand, der davon noch nie etwas gehört hat, die Akte liest und alles versteht. Also auch versteht, wie Bahnradspo­rt funktionie­rt und das ist schwierig.

 ?? Foto: Sebastian Gollnow, dpa ?? Im Kreise ihrer ehemaligen Kolleginne­n fühlt sich Kristina Vogel am wohlsten. Zum Auftakt der Bahnrad-WM in Berlin holten Emma Hinze (links), Lea Friedrich (hinten Mitte) und Pauline Arabisch (rechts) Gold im Teamsprint. Ebenfalls auf dem Bild zu sehen ist Miriam Gelte, mit der Vogel Olympia-Gold gewann.
Foto: Sebastian Gollnow, dpa Im Kreise ihrer ehemaligen Kolleginne­n fühlt sich Kristina Vogel am wohlsten. Zum Auftakt der Bahnrad-WM in Berlin holten Emma Hinze (links), Lea Friedrich (hinten Mitte) und Pauline Arabisch (rechts) Gold im Teamsprint. Ebenfalls auf dem Bild zu sehen ist Miriam Gelte, mit der Vogel Olympia-Gold gewann.

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