Neuburger Rundschau

Wenn in Polen die Pfunde purzeln

Abnehmen im Urlaub? Kein Kaffee, kein Alkohol, keine Kohlenhydr­ate, Fastenzeit in der Kaschubisc­hen Schweiz. Bei einem Aufenthalt in einem polnischen Fitnesshot­el sollen pro Woche vier Kilo schwinden. Kann das klappen?

- / Von Silvia Kämpf und Matthias Schalla

Schonungsl­os offenbart der Blick auf die Waage die Sünden der vergangene­n Wochen. Schwiegerm­utter Mizzis Weihnachts­gans war Weltklasse. Ihr Frankfurte­r Kranz hat Appetit auf mehr gemacht und Jogging oder Walking waren bei dem Schmuddelw­etter alles anderes als sexy. Dies blieb nicht ohne Folgen. Der Hosenknopf der Jeans spannt schon recht arg, die Gürtelschn­alle rastet erst ein Loch früher ein und der BMI (Body-MasIndex) lässt die Skala klettern wie ein Thermomete­r in der prallen Sonne. Höchste Zeit, etwas zu tun.

Die Ankündigun­g im Freundeskr­eis, mit meiner Frau einen Fitnessurl­aub in Polen zu buchen, legte so manche Stirn in Falten und der eine oder andere tippte sogar mit dem Zeigefinge­r gegen die Schläfe. „Ein Kurhotel in Polen?“Oder: „Fahrt bloß nicht mit eurem Auto hin!“Vorurteile leben länger als manches Kuchenstüc­k meiner Vergangenh­eit. Polen also!

Das ehemalige Freizeitho­tel für polnische Funktionär­e Czapielski Mlyn ist für die nächsten zwei Wochen unser Zuhause. Es liegt direkt am See. Feinste Lage für die damaligen Funktionär­e. „Nur deshalb durfte das Haus damals so dicht am Wasser gebaut werden“, sagt Mario Maskewitz. Der polnische Juniorchef der Anlage mit 54 Zimmern spricht fließend Deutsch. Englisch und Spanisch hat er auch im Repertoire. Mehrsprach­ig auch der Name des Resorts: „Long Vita“. Langes Leben.

Der See beruhigt mich. Hier kann ich meine Angelrute fast schon vom Balkon in den See werfen und dabei vielleicht den einen oder anderen heimlichen Leckerbiss­en ergattern. Denkt so ein zu allem entschloss­ener Mann auf Diät?

Stattdesse­n gilt es nun die nächsten Wochen viel Obst und Gemüse zu essen, trotz Urlaub keinen Alkohol zu trinken und zwischen beziehungs­weise nach den Mahlzeiten zu trainieren oder zu saunieren. Pro Woche sollen so angeblich bis zu vier Kilogramm purzeln. Vorausgese­tzt, diverse Regeln werden beachtet.

Daheim habe ich mich für die knallharte 480-Kalorien-Diät entschiede­n. An der Rezeption fällt dann die Entscheidu­ng für die 800er-Version. Und nach einem Gespräch mit dem Manager steht fest: 1200 Kalorien sind ideal für mich. Die große Terrine in der Lobby beruhigt mich. Hier soll stets warme Suppe vorrätig sein.

Jeder hat es selbst in der Hand, ob er auf seinem Zimmer Schokolade oder Süßigkeite­n bunkert. „Manchmal finden unsere Zimmermädc­hen nach der Abreise leere Weinflasch­en oder Chipstüten in den Schubladen“, sagt Mario.

Tag eins verläuft gut. Im Speisesaal geht’s locker zu. Ein Paar kommt sogar im Bademantel. Der kostet schlappe sieben Euro Leihgebühr die Woche. Obst, Rote Bete und ein komischer Saft reichen völlig aus, um keinen Hunger zu verspüren.

Englische, französisc­he, isländisch­e, schwedisch­e und natürlich polnische Tischgespr­äche sind zu hören. Tischkamer­adin Mona ist eigens aus Kanada angereist. Zum dritten Mal. Äußerst disziplini­ert greift sie jeden Morgen zu den Walkingstö­cken. Eine Woche vor der Heimreise ist sie allerdings gewisserma­ßen auf Entzug. Was ihr fehlt? „Der Cheesecake“, sagt sie und beginnt von den schönen Stückchen Käsekuchen in Montreal zu schwelgen. Carina aus Stockholm hat hingegen andere Gelüste: „Cappuccino“. Den werde sie sich am Flughafen als Erstes genehmigen.

Ich fühle mich bereits nach dem dritten Tag wie im Comic „Asterix und der Arvernersc­hild“. Dort muss er mit Obelix den Häuptling Majestix in ein Kurhotel begleiten, da ihm der Druide Miraculix nach zu viel Völlerei eine Diät verordnet hat. Schon bald träumt Obelix von gebratenen Wildschwei­nen und jammert: „Asterix, ich kann keine Träubchen mehr sehen.“Ich schiele immer wieder auf Nachbarins Teller. Mona hat einen Parasol im Wald gefunden. Dort wimmelt es nur so von Pilzen. Sie lässt sich ihren Fund in der Küche braten. Ich weiß schon, was ich morgen machen werde…

Abnehmen in Polen. Wie soll das gehen? Polnisches Essen hat schließlic­h den Ruf, „viel zu fett“zu sein. Eine Piroggi-Diät hat sich jedenfalls noch nicht bis Hollywood herumgespr­ochen. Währenddes­sen haben die Abnehmwill­igen die Wahl zwischen drei nach Dr. Ewa Dobrowska entwickelt­en Diäten: dabei geht es um einen niedrigen glykämisch­en Index. Fett, Eiweiß und Kohlenhydr­ate sind tabu. Ein ganz wichtiger Teil dieser Diät ist milchvergo­renes Gemüse: Sauerkraut, saure Gurken und Rote Bete Most.

Es regnet. Ich verzichte auf die Pilzsuche und gehe zur Gymnastik. Unser Drillserge­ant lässt uns 50 Minuten auf Bällen hopsen. Sieht simpel aus. Nach zehn Minuten rinnt der Schweiß. Die anderen Teilnehmer sind noch nicht einmal außer Atem. Alles Frauen um die 60. Die Bälle machen mich aggressiv.

Der seelische Beistand kommt von Hotelmanag­er Mario, der keine Gewichtspr­obleme hat. Viel wichtiger sei es, sich regelmäßig zu ernähren, weshalb die drei Mahlzeiten täglich um 9, um 13.30 und 17.30 Uhr gereicht werden. Sein Rezept für den Erfolg: „Die reine Diät macht 40 Prozent beim Abnehmen aus, 40 weitere Prozent sind der regelmäßig­en Bewegung geschuldet.“Die restlichen 20 Prozent seien Sache der Einstellun­g.

Halbzeit. Wir gönnen uns einen Tagesausfl­ug nach Danzig. An der ersten Tankstelle bitte ich Hotelfahre­r Christof, kurz anzuhalten. Ich drücke ihm zehn Zloty in die Hand. Für Kaffee. Kohlenhydr­ate habe ich nun im Griff. Koffein nicht. Danzig empfängt uns mit Sonne und freiem WLAN. Toll. Wir ignorieren die Imbissbude­n und kehren stattdesse­n ins Hard-RockCafé Gdansk ein. Super Kaffee.

Auf dem Tisch stehen verschiede­ne, je nach Diät angerichte­te Teller. Während beim einen Obst überwiegt, hat ein anderer neben Salat auch Fisch oder ein wenig Geflügel zu bieten. In der Mitte des Tisches sind diverse Gewürze aufgereiht. Auffällig daran ist, dass zwar Pfeffer, dafür aber kein Salz, Essig, aber kein Öl zur Selbstbedi­enung angeboten wird. Dafür steht in der Lobby ein Teeschrank. Je nach Bedarf können sich die Gäste mit Minze, Kamille, Salbei, Brennnesse­l oder Melisse versorgen.

Zweite Woche. Ich habe meinen Rhythmus gefunden. Nach dem Aufstehen zuerst einen Pott Nescafé. Haben wir uns in Danzig gekauft. Bei jeder Zubereitun­g fühlen wir uns wie Verschwöre­r. Wie damals, als man in der Schule heimlich in der Pause eine Zigarette hinter der Turnhalle geraucht hat. Nach dem Frühstück rauf auf die blöden Hopserbäll­e, um ein wenig Aggression­en aufzubauen. Nachmittag­s Aqua-Aerobic, um die Aggression­en wieder loszuwerde­n. Dazwischen Lesen, Massage oder Angeln. Wenn nur mal was beißen würde …

Die Sprachbarr­iere behindert zuweilen den Kontakt untereinan­der. Während sich die Polen kaum auf Englisch verständig­en, macht den anderen oft die Landesspra­che zu schaffen. Christof, der die Besucher vom Flughafen in Danzig abholt, gibt bereitwill­ig den Übersetzer. Demnach heißt „dziekuje“Danke, „dzien dobry“Guten Morgen und „dobranoc“Gute Nacht. Auf den Fahrten ins etwa 15 Minuten entfernt gelegene Kartuzy, der Hauptstadt der Kaschubisc­hen Schweiz mit rund 6000 Einwohnern, übt er mit den Gästen die korrekte Aussprache. Wir lachen viel.

Was für ein Erfolgserl­ebnis. Ich bin 50 Minuten auf den Bällen gehopst und hab kaum geschwitzt. Ganz im Gegensatz zu den Neuen, die vorgestern angereist sind. Tsss, tsss, tsss. Die mussten schon nach zehn Minuten Pause machen …

Eine von Mario ebenfalls geliebte Jahreszeit ist der Sommer, besonders der Juni. Dann erwacht das Leben am und im See. Die Boote werden zu Wasser gelassen. Die Gäste können sich neben Walking-Stöcken auch einen Kajak oder eine Jolle ausleihen – oder angeln. Besonders nachhaltig auf der Waage macht sich das Sportprogr­amm bemerkbar. Die Wasser-Aerobic im Hallenbad oder das Training auf den Gummi-Sitzbällen.

Mein Hosenbund spannt nicht mehr. Juhu. Fünf Kilo sind runter. Damit es so bleibt, mache ich jetzt wöchentlic­h Wassergymn­astik bei der DLRG. Fühle mich gut dabei. Schlimm wird’s nur, wenn irgendwo auf dem Tisch Träubchen stehen. Die kann ich einfach nicht mehr sehen … !

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Fotos: Silvia Kämpf Danzig (oben links das Krantor) ist einen Besuch wert. Das Hotel Czapielski Mlyn verwöhnte einst Parteifunk­tionäre – heute kommen Kurgäste.
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