Das Leben lesen
Pascal Mercier Wieder ein gedankenreicher Bestseller
Er hat es wieder getan. 15 Jahre ist es her, da verwandelte der Schweizer Peter Bieri den Gehalt seines Philosophiebuchs über „Das Handwerk der Freiheit“in einen Roman. Unter dem Pseudonym Pascal Mercier, mit dem Titel „Nachtzug nach Lissabon“– es wurde ein internationaler Bestseller. Nun thront auch „Das Gewicht der Worte“in den Verkaufsranglisten unter dem Namen Mercier, nachdem Bieri zuletzt „Eine Erzählung schreiben und verstehen“sowie „Eine Art zu leben“veröffentlicht hat: also über die Wirkung von Sprache und den Menschenwürde.
Und wieder erzählt der Autor, inzwischen 75, auf mehreren Ebenen, in unterschiedlichen Formen. Aufhänger ist die Geschichte des Simon Leyland, der mit 66 und nach dramatischen Schicksalswendungen in die Heimat London zurückkehrt. Er hat das Haus des Onkels geerbt, in dem er einst durch eine Karte an der Wand seine Bestimmung entdeckte: alle Sprachen des Mittelmeerraumes zu sprechen. Was ihn nach dem jugendlichen Ausbruch aus dem familiären Oberklassen-Leben zum Übersetzer hat werden lassen – und sogar zum Verleger in Triest, als Erbe seiner dorther stammenden und plötzlich gestorbenen Frau, Mutter seiner beiden Kinder. Nun aber drohte ebenso plötzlich Leyland selbst durch eine Diagnose alle Zukunft zu verlieren. Das schärft den Blick zurück, die Konzentration aufs Existenzielle.
Zwischen die stets bis ins Detail mit Bedeutung aufgeladenen Erinnerungen kommt beim geradezu Sprach- und Literatur-vernarrten Leyland unweigerlich die zweite Ebene: „Stets sind es die Wörter, die mir helfen, den Bann der Zeitlichkeit zu brechen. Etwas im Geiste der Poesie, also ganz der Form und der stimmigen Melodie verpflichtet, in Worte fassen: Es ist ein Weg, sich von der Illusion der Geschäftigkeit freizumachen. Poesie verlangsamt die Zeit, hebt sie auf und befreit uns von ihr… Sie schafft Gegenwart, eine gewissermaßen ewige Gegenwart, ewig, weil sie immer da ist und durch nichts aufgehoben werden kann.“Das ist hier mehr als Literaturtheorie, das ist die Erkundung des auch ganz persönlichen Verhältnisses zwischen Lesen und Schreiben und Leben.
Denn solcherlei hat Leyland nicht von ungefähr in Briefen an seine Frau geschrieben, nachdem diese gestorben war. Weil seine Selbstvergewisserung immer im Gespräch mit ihr, mit ihr als Spiegel stattgefunden hat. Und weil das gemeinsame Element der beiden die Sprache in ihrer Bedeutung und die Sprachen in ihrer Vielfalt waren. Jetzt liest er alle diese Briefe wieder und taucht durch sie gleichsam selbst in eine ewige Gegenwart ein…
Alles selbst sehr poetisch aufgeladen, was Bieri alias Mercier da liefert – und sehr elegisch: „Leyland legte den Brief zur Seite. Es war nicht nur Notwehr gewesen, ihn zu schreiben. Es war auch darum gegangen, durch das Suchen nach den richtigen Worten die Konturen seines Erlebens zu erkunden. Herauszufinden, was genau er empfand. Manchmal hatte er innegehalten und mit Verwunderung gespürt, dass er zum ersten Mal dabei war zu entdecken, wer er war.“Aber nun eben die Frage: Ist es angesichts des Zustands der Welt und der Not anderer nicht dekadent, als zentral im Leben zu sehen, wann wo ein Komma gesetzt werden muss und ob Felicidad, Felicitá, Bonheur, Happiness oder Glück nun mit dem Klang den Zustand besser trifft. Die Antwort ist typisch Bieri: Über die Bedeutung bestimmt das individuelle Leben, Wichtigkeiten können nicht gegeneinander abgewogen werden.
Insofern: ein unzeitgemäß geschriebenes Buch mit einer zeitgemäßen Botschaft – beruhigend jedenfalls für die, die im Wohlstand leben. Wolfgang Schütz